Camino Inglés
Datum | Strecke | Länge | Gesamtlänge | |
1. | 01.07.2016 | Ferrol - Xubia | 15 km | 15 km |
2. | 02.07.2016 | Xubia - Miño | 26 km | 41 km |
3. | 03.07.2016 | Miño - Betanzos | 12 km | 53 km |
4. | 04.07.2016 | Betanzos - Hospital da Bruma | 28 km | 81 km |
5. | 05.07.2016 | Hospital da Bruma - Sigüeiro | 26 km | 107 km |
6. | 06.07.2016 | Sigüeiro - Santiago de Compostela | 17 km | 124 km |
7. | 07.07.2016 | Santiago de Compostela - Negreira | 22 km | 146 km |
8. | 08.07.2016 | Negreira - Olveiroa | 33 km | 179 km |
9. | 09.07.2016 | Olveiroa - Cee | 19 km | 198 km |
10. | 10.07.2016 | Cee - Fisterra | 13 km | 211 km |
11. | 11.07.2018 | Fisterra - Muxia | 29 km | 240 km |
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Anreise mit Hindernissen und Gänsehaut Donnerstag, 30. Juni 2016: Santiago de Compostela Endlich ist der Tag gekommen, an dem Olli und ich uns auf den Camino Inglés begeben wollen. Da der Bus zum Flughafen Hahn dort zu knapp ankommt, fährt uns mein Sohn Christian mit dem Auto in den Hunsrück. Wir kommen auf der Straße gut durch und erreichen den Flughafen nach einer guten Dreiviertelstunde. Wir geben zunächst unsere Rucksäcke, die wir vorher gut in Schutzhüllen verpackt haben, am Abfertigungsschalter ab. Nach einer kurzen Wartezeit, die wir auf der Besucherterrasse verbringen, begeben wir uns zur Sicherheitsschleuse und anschließend zum für unseren Flug angegebenen Gate 5. Es dauert nicht lange, dann werden wir aufgefordert, uns zum Gate 2 zu begeben. Wir bedauern die dort ebenfalls wartenden Fluggäste nach Mallorca, deren Flug um einige Stunden verschoben werden muss. Die meist jungen Leute vertreiben sich die Zeit mit Dosenbier und lauter Musik. Das nervt ganz gewaltig, sie scheinen den Flugsteig bereits mit dem Strand von Arenal zu verwechseln. Der Begriff „Rücksichtnahme“ scheint ihnen ein Fremdwort zu sein. Kaum stehen wir in der Priority-Schlange, erreicht uns über Lautsprecher die Hiobsbotschaft: der Flieger nach Santiago wird erst mit zweistündiger Verspätung starten. Das ist ja prima! Sofort gehen mir unzählige Gedanken durch den Kopf. Vor allem aber: die Rezeption der Albergue Seminario Menor, unsere Unterkunft für die erste Nacht in Santiago, schließt um 23:00 Uhr. Schnell eine Mail hinschicken und nachfragen, ob wir auch später einchecken können - leider wird es bis zum Abflug keine Antwort geben. Was macht man nun zwei Stunden auf einem kleinen Flughafen? Uns fällt nichts Besseres ein, als in einer Kaffeebar etwas zu trinken und die Zeit herumzubekommen. Am Nebentisch sitzt eine russische Familie, deren kleiner Sohn sich gerade so auf den Beinen halten kann. Interessiert schaut er immer wieder zu uns herüber und erfreut uns mit seinem herzlichen Lächeln. Gegen 21:00 Uhr sitzen wir endlich im Flieger. Der Flug verläuft sehr ruhig und nach zwei Stunden und zehn Minuten landen wir im dunklen Santiago. Ich habe immer noch keine Antwort auf meine Mail erhalten. Mal schauen, ob wir unsere Betten noch bekommen. Auf dem Hahn hatten wir bereits mit einem Ehepaar aus Saarbrücken ausgemacht, zusammen mit dem Taxi ins Zentrum zu fahren. Das ist eine sehr gute Entscheidung, denn nach nur rund 15 Minuten steigen wir direkt vor der Hospedería San Martín Pinario aus, wo sie die Nacht verbringen, und verabschieden uns mit einem ersten Buen Camino von den beiden. Dann marschieren wir zu unserer Unterkunft. Aus dem Tunnel, der zur Praza Obradoiro führt, erklingt noch zu dieser späten Stunde das „Halleluja“ von Leonard Cohen, auf einer Harmonika gespielt. Gänsehaut Nummer 1! Wir gehen entgegen der Marschrichtung des Camino Francés und passieren die Praza Porta Camiño, wo es im vergangenen Jahr tolle Konzerte mit galizischen Formationen gab. Heute spürt man ebenfalls im Vorbeigehen eine großartige Stimmung auf dem Platz. Drei Frauen stehen auf der Bühne und begeistern das Publikum nur mit Stimme und Tambourin - Gänsehaut Nummer 2! Nur zehn Minuten später huschen wir durch das Tor der Herberge. Es ist kurz vor Mitternacht und in der Rezeption brennt noch Licht. Wir können doch noch einchecken - Glück gehabt. Allerdings scheint es einige Probleme mit unserer Buchung zu geben, die sich aber glücklicherweise rasch lösen. Unsere Einzelzimmer - wahrscheinlich früher einmal Mönchszellen - befinden sich im dritten Stock und sind sehr klein, aber für unsere Zwecke völlig ausreichend. Bevor wir uns für die Nachtruhe vorbereiten, besorgen wir uns an einem Automaten im Keller ein paar Getränke.
Die letzten Betten gehören uns Freitag, 1. Juli 2016: Von Ferrol nach Xubia Nach einer ruhigen Nacht werde ich durch das Summen meines Handys wach. Meine Frau Susanne schickt mir um 6:30 Uhr liebe Wünsche für den Tag. Da ich sowieso noch im frühmorgendlichen Trott des Dienstes bin, habe ich mit der Uhrzeit kein Problem und bereite mich ganz allmählich auf den Tag vor. Olli und ich haben uns für 7:30 Uhr verabredet, und wer abmarschbereit ist, soll sich beim anderen melden. Eine halbe Stunde später sind wir auf dem Weg zum Busbahnhof. Dort treffen wir in der Schlange vor dem Ticketschalter noch einmal das Ehepaar aus dem Saarland, das in diesem Jahr auf dem Camino del Norte pilgern und mit dem Bus zum Ausgangspunkt fahren will. Wir kaufen zwei Tickets nach Ferrol und warten auf den Bus mit der Nummer 2626, der pünktlich um 9:15 Uhr abfährt. Die Fahrt verläuft vornehmlich über die Autobahn AP-9 und für die rund 90 Kilometer sind 80 Minuten geplant. Unterwegs können wir schon ein wenig von dem erahnen, was uns in den nächsten Tagen erwarten wird. Die Gegend ist recht hügelig und hin und wieder überqueren wir einige Rías. Das sind Meeresarme, die mitunter tief ins Landesinnere hineinragen und die Landschaft deutlich prägen. In Pontedeume macht der Bus seinen einzigen Zwischenstopp. Hier werden wir morgen zu Fuß durchlaufen. Vom Busbahnhof in Ferrol ist es nicht allzu weit bis zum Startpunkt des Camino Inglés. Da wir heute bisher noch kein Frühstück hatten, kaufen wir in einem kleinen Supermarkt Wasser und Obst ein. Inzwischen hat es begonnen, leicht zu nieseln und der Himmel ist mit grauen Wolken bedeckt. In einem kleinen Park wechsele ich daher noch schnell von Sandalen auf Wanderstiefel. Zudem umhüllen wir unsere Rucksäcke mit dem Nässeschutz. Zwei Ecken weiter sind wir schon am Hafen, wo der Beginn des Weges mit einem Monolithen markiert ist. In der Tourist-Information erhalten wir von zwei jungen Damen neben dem ersten Stempel auch noch hilfreiche Hinweise zur Wegführung. Nach einem Café con leche in der gegenüberliegenden Bar ist es um 11:00 Uhr soweit: wir star-ten unseren Camino. Zu unserer Freude hat inzwischen auch der Nieselregen aufgehört. Es geht zunächst durch die schön anzusehenden Straßenzüge des Stadtviertels A Magdalena mit hübschen Häusern im Jugendstil zur Igrexa Castrense de San Francisco. Dort möchten wir aber den gerade laufenden Gottesdienst nicht stören. Die Kirche wurde 1757 auf dem Gelände des ehemaligen Franziskanerklosters im klassizistischen Stil erbaut. Direkt nebenan ist noch eine Kapelle geöffnet, die wir uns stattdessen anschauen. Ich nehme mir die Zeit für ein kurzes Gebet für einen guten Weg. Wir durchlaufen eine belebte Einkaufsstraße und erwecken an einer Abzweigung wohl den Eindruck, nicht mehr weiter zu wissen. Das nimmt sich ein älterer Herr zum Anlass, uns den richtigen Weg zu erläutern. Die Menschen sind uns gegenüber sehr freundlich und hilfsbereit. Wir verlassen nun Ferrol und umlaufen das riesengroße Gelände eines Marinearsenals mit Werft und einer Militärschule. Hin und wieder erhaschen wir einen Blick auf dort vor Anker liegende Fregatten und andere Kriegsschiffe der spanischen Marine und verbündeter NATO-Staaten. Erst vor wenigen Wochen hatte ich die Gelegenheit, in Hamburg eine Werft zu besichtigen, die gerade neue Fregatten für die deutsche Marine baut. Man will gar nicht glauben, dass diese Stahlkolosse tatsächlich vom Wasser getragen werden können. Schließlich erreichen wir direkt am Ufer der Ría de Ferrol die Capilla de Santa María de Caranza und einen kleinen Park. Ab hier verläuft der gut markierte Weg parallel zum Ufer mit Blick auf den Güterumschlaghafen auf der gegenüberliegenden Seite. In der Bar O Mariscador in Narón genehmigen wir uns ein Bocadillo mit Seranoschinken und bekommen einen weiteren Stempel. Durch die Fensterscheibe sehen wir erstmals zwei weitere Pilgerinnen, deutlich am Rucksack erkennbar. Es werden heute die einzigen sein, die wir auf dem Weg zumindest sehen. Die Hälfte der heutigen Strecke wäre nun geschafft. Etwas später passieren wir das Kloster von San Martiño de Xubia, das auch als Mosteiro do Couto bekannt ist. Das Kloster aus dem Jahre 977 wurde auf den Resten einer älteren Kirche, wahrscheinlich aus dem 9. Jahrhundert, erbaut. Leider ist eine Besichtigung gerade nicht möglich. Wir unterqueren jetzt die Autobahn und wandern durch einen Eukalyptuswald. Olli zerreibt ein Blatt in den Händen und genießt den wohlriechenden Duft des sich lösenden Eukalyptusöles. Just in diesem Moment lässt sich endlich auch die Sonne ein wenig durch die dichte graue Wolkendecke blicken. Ob die Eukalyptusdämpfe etwas damit zu tun haben? Wir überqueren die Autobahn auf einer weit ausholenden, blauen Fußgängerbrücke und erreichen eine alte Mühle. Über einen schmalen Damm durch die Ría erreichen wir Xubia, einen Ortsteil von Neda. Dort werden wir durch Hinweisschilder auf eine provisorische Strecke gelenkt und laufen dementsprechend an der Hauptstraße durch den Ort. Eine Baustelle soll den regulären Weg unpassierbar machen. Da eine Weile keine Markierungen mehr zu finden sind, werde ich allmählich nervös. An der etwas von der Straße zurückliegenden Igrexa Santa Rita de Xubia schaue ich lieber auf meine digitale Karte. Ich stelle fest, dass wir an dieser Stelle gar nicht so verkehrt sind. Vor der Kirche biegen wir nach rechts ab und stoßen auf eine Fußgängerbrücke über die Ría de Ferrol, hinter der sich unmittelbar die öffentliche Albergue de Peregrinos de Xubia befindet. Es ist jetzt 15:00 Uhr und der Vorraum der Herberge ist mit einer Jugendgruppe belegt, die laut und durcheinander auf Spanisch diskutiert. Auf meine Anfrage in Englisch, wann denn die Rezeption offen sei, ernte ich nur fragende Blicke, frei nach dem Motto: „Was will der von uns?“ Anscheinend spricht keiner der jungen Leute Englisch oder sie wollen es einfach nicht. Olli belegt inzwischen im angrenzenden Schlafsaal in der hintersten Ecke die anscheinend letzten zwei freien Betten für uns, auf denen wir als deutliche Markierung unsere Habe ausbreiten. Danach ist Körper- und Materialpflege angesagt. Nebenbei werden die Betten noch für die Nacht mit einem Einmalüberzug präpariert, den wir uns aus einem Pappkarton im Wirtschaftsraum besorgen. Derweil haben meine Recherchen an den Aushängen ergeben, dass die Rezeption im Zeitfenster 20:00 Uhr bis 20:30 Uhr alle Übernachtungsgäste zur Registrierung erwartet. So lange wollen wir mit dem Abendessen nicht warten, denn es stellt sich bei uns ein Hungergefühl ein. Wir schlendern ein wenig durch den Ort und kehren letztendlich in der Pensión Residencia Maragoto ein, wo ein Pilgermenü für 9 € angeboten wird. Wir müssen allerdings noch ein halbe Stunde warten, denn die Küche öffnet erst um 19:00 Uhr. Die Wartezeit vertreiben wir uns mit einem kühlen Estrella. Dann wird zu unserer Freude das Essen serviert. Es gibt es eine Gemüsesuppe, Schweinebraten mit Pommes und zum Dessert ein Eis. Dazu wird eine ganze Flasche Vino Tinto gereicht. Nach dem Essen schaffen wir es gerade noch so, uns vom Angehörigen des örtlichen Zivilschutzes, der für die Herberge verantwortlich ist, registrieren zu lassen. Wenn wir das richtig mitbekommen haben, sind wir von den 24 Übernachtungsgästen anscheinend die einzigen Nichtspanier. Die Jugendlichen wollen gleich noch kochen - und es ist schon 21:00 Uhr. Wir sind gespannt, ob wir bald Ruhe finden. Wir bereiten unsere Rucksäcke noch so vor, dass wir sie morgen früh einfach greifen und den Schlafsaal verlassen können, ohne die anderen Pilger mit unnötigen Geräuschen zu stören.
Darf ich Bernd, meinen neuen Begleiter, vorstellen? Samstag, 2. Juli 2016: Von Xubia nach Miño Ich hätte nicht gedacht, dass die Nacht so ruhig verlaufen würde. So täuscht man sich in Jugendlichen. Die Gruppe hat sich sehr rücksichtsvoll verhalten, von ihrem Kochen und Zubettgehen habe ich gar nichts mitbekommen. Olli wird gegen 5:40 Uhr wach, packt sich leise seine Sachen und verlässt den Schlafsaal. Ich mache es ihm bald nach, denn ich bin ebenfalls wach. Anscheinend sind wir in solch froher Erwartung, dass wir einfach nur auf die Straße möchten. Ein älterer Pilger, der bis jetzt noch nichts mit uns gesprochen hat, sitzt im Vorraum an einem Tisch und verspeist fertig angezogen etwas Obst. Derweil machen Olli und ich uns ganz gemütlich fertig: Schlafsack zusammenrollen, Füße mit Hirschtalg verwöhnen und Zähne putzen, Rucksack packen und zum Abschluss noch einmal alles kontrollieren. Inzwischen kommt Leben in den Raum. Nacheinander kommen vier Mädels aus dem Schlafsaal geschlichen und beginnen ebenfalls mit ähnlichen Tätigkeiten wie wir. Im Wirtschaftsraum entlocken wir einem Automaten ein paar kleine Wasserflaschen und stellen im Vorbeigehen fest, dass der kleine Schlafraum mit vier Betten für behinderte Pilger und ihre Begleiter sogar mit sechs weiteren, noch schlafenden Gästen belegt ist. Der ältere Spanier ist bereits mit Stirnlampe in die Dunkelheit gezogen. Wir warten aber noch etwas ab, bis es draußen dämmert. Das ist um 6:50 Uhr der Fall. Wir verabschieden uns mit dem Pilgergruß von der Jugend und starten in den Tag. Zunächst geht es auf Holzplanken durch ein Naturschutzgebiet entlang der Ria bis Ribeira de Santa María. Dort passieren wir die Igrexa de Santa María, laufen durch Neda und dann etwas höher gelegen in Richtung Fene weiter. Von hier oben hat man wunderschöne Ausblicke auf die Ría de Ferrol und zurück nach Xubia. Noch ist am Himmel eine fast geschlossene Wolkendecke zu sehen, aber es tun sich ab und zu schon erste hellere Fenster mit blauem Hintergrund auf. Nun passieren wir öfter traditionelle Waschhäuser und schlängeln uns von der Höhe abwärts nach Fene. Auf der anderen Straßenseite lacht uns die Bar El Camarote an. Es ist kurz nach 8:00 Uhr, also durchaus Zeit für ein Frühstück. Wir nehmen an einem Tisch im Außenbereich Platz und stellen die Rücksäcke ab. Zum Kaffee - für mich wieder mit viiiiel Milch - bestellen wir bei der Wirtin Croissants und erhalten zusätzlich den obligatorischen Pilgerstempel für unser Credencial. Einen Gast in der Bar bitten wir, ein Foto von uns mit der vor der Bar platzierten Pilgerfigur in historischer Gewandung zu machen. Er verschwindet wieder in der Bar und kehrt wenig später zu uns zurück und schenkt jedem noch eine Jakobsmuschel. Erneut sind wir sehr erstaunt über die Freundlichkeit der Menschen hier. Wir verabschieden uns von den beiden und lassen den urbanen Siedlungsraum hinter uns. Es geht aufwärts in die Natur. Vor uns liegt ein Stück Eukalyptuswald, dessen Luft wir inzwischen sehr lieben. Nach der Überquerung der Autobahn folgt ein weiteres kurzes Waldstück, bis wir einen großen Kreisverkehr erreichen. Dort kaufen wir in einer Tankstelle neues Wasser und ich richte meinen rechten Schuh samt Socke noch einmal her. Irgendwie zwickt es an der Ferse, aber es ist nichts zu sehen. Dann umgehen wir großzügig über einen schmalen Wiesenpfad ein Gewerbegebiet. Erneut überqueren wir die Autobahn. Ab hier verläuft der Weg eine ganze Weile abwärts nach O Val. Hier überholen uns schnellen Schrittes ein Vater und sein Sohn. Kurz darauf hören wir hinter uns die lauten Stimmen einer Jugendgruppe, die wir jedoch nicht zu Gesicht bekommen. Wir machen uns schon wieder Gedanken, ob die 20 Betten der Albergue de Peregrinos de Miño für die Horde und uns ausreichen werden. An einer Straße in San Martiño de Porto passiert es: wir folgen blind Vater und Sohn, ohne auf Markierungen zu achten und verpassen prompt einen gelben Pfeil auf der anderen Straßenseite. Zum Glück laufen wir nur rund 250 Meter in die falsche Richtung, bis wir von einer Spanierin ausgebremst werden. Sie bringt uns vier verirrte Pilger wieder auf den richtigen Weg nach Magdalena. Dabei kommen wir ins Gespräch und erfahren, dass unsere Begleiter aus New York kommen. An der nächsten Bar trennen sich unsere Wege bereits, die beiden möchten eine Kleinigkeit frühstücken. Olli und ich gehen weiter bis nach Pontedeume. Auf der rechten Seite sehen wir in einer Parkanlage die Jugendgruppe, die wegen unseres Umweges nun doch an uns vorbeigezogen ist. Sie lässt sich dort im Schatten der Bäume zu einer Rast nieder. Vor uns tut sich ein wunderschöner Blick auf Pontedeume auf, das teilweise in den Hang gebaut wurde. Das idyllisch an der Ría de Ume gelegene Städtchen ist festlich geschmückt, denn es findet am Wochenende ein Mittelalterfest statt. In der Tourist-Information erhalten wir von einer sehr freundlichen Mitarbeiterin unseren Stempel. Leider sind wir zu einer blöden Uhrzeit hier, denn in allen Bars gibt es erst ab 13:00 Uhr etwas zu essen. Beim Rundgang über das Festgelände fällt uns besonders eine Grillstation auf. Auf einem überdimensionalen runden Rost sind allerlei Leckereien aufgeschichtet und werden über glühenden Holzkohlen gegart. Glücklicherweise sind einige Stände schon verkaufsbereit und wir bekommen in einer mittelalterlichen Bäckerei einen Fladen mit einer Gemüse-Thunfisch-Füllung, der sehr lecker ist. Bevor es weitergeht, besorgen wir uns noch neue Wasserflaschen und etwas Obst. Nun wird es heftig: über einen langgezogenen Anstieg verlassen wir die Stadt. Schade, die örtliche Jakobus-Kirche ist verschlossen. Dafür treffen wir noch einmal die beiden Amerikaner, während wir über eine große Schülergruppe staunen, die lauthals an uns die steile Straße emporfliegt. Irgendwann bleiben Vater und Sohn dann hinter uns. Sie wollten, wie wir, bis Miño laufen. Der Weg führt jetzt durch herrlich einsame Natur. Zweimal laufen wir an Grillplätzen vorbei, die anscheinend nicht so oft genutzt werden. Auf Höhe eines Golfplatzes queren wir die Autobahn und haben einen nicht enden wollenden Anstieg vor uns. Hoffentlich sind die vielen Holzkreuze am Zaun kein schlechtes Omen. Schweißtriefend kommen wir endlich zum höchsten Punkt, dürfen die überwundenen Höhenmeter wieder abwärts gehen. Wir durchlaufen das Örtchen Viadeiro, das sowohl mit alten, verfallenen, als auch mit neueren Häusern aufwartet Um zur Pilgerherberge zu gelangen, müssen wir noch einen großen Bogen laufen, teilweise entlang einer Bahnlinie. Auf der Betonmauer zu unserer Linken reihen sich mehrere bunte Graffitis aneinander. Darunter ist auch eines, das den vorbeiziehenden Pilgern einen Gruß mitgibt. Um 13:50 Uhr erreichen wir nach rund 26 km die am Ortsrand gelegene Herberge. Sie steht offen und wir sind erstaunlicherweise die Ersten. Im Erdgeschoss befinden sich der Aufenthaltsraum, eine kleine Küchenzeile, die sanitären Einrichtungen und der Waschraum. Wir wählen im Obergeschoss den rechten Schlafsaal und suchen uns jeder ein Bett aus. Es folgt die tägliche Routine: Bett beziehen, duschen, waschen. Gegen 15:00 Uhr taucht der Hospitalero kurz auf und bittet uns, um 20:00 Uhr zur Registrierung anwesend zu sein. Inzwischen ist eine weitere Stunde vergangen und es kommen noch zwei Spanierinnen in die Unterkunft, die sich im linken Schlafsaal breitmachen. Wir sind gespannt, wie viele Pilger heute hier übernachten. Während auf der von Olli konstruierten Wäscheleine unsere Sachen die Nässe verlieren, ruhen wir uns noch etwas aus. Anschließend gehen wir in die Stadt, um etwas zu essen. Leider spricht uns dort gar keine der spärlich vorhandenen Gastronomie an, also plündern wir den örtlichen Supermarkt. Unsere Beute: Cerveza, queso, fuet, pan. Beim Verzehr vor der Herberge werden wir von den vier jungen Spanierinnen überrascht, die wir heute Morgen in Xubia vor unserem Abmarsch gesehen hatten. Sie müssen sich unterwegs sehr viel Zeit gelassen haben, sind rund vier Stunden nach uns eingetroffen. Der Hospitalero erscheint etwas verspätet erst um 20:45 Uhr in der Herberge, kassiert die sechs Euro Übernachtungsgeld und stempelt unsere Pilgerausweise. Übrigens, hatte ich fast vergessen: ich habe mich nicht mit Olli zerstritten und mir einen neuen Pilgerbegleiter gesucht. Vielmehr hat sich seit heute Mittag Bernd, eine Blase an der rechten Ferse, ganz unbemerkt eingeschlichen (der Name hat nichts mit mir bekannten Personen mit diesem Namen zu tun). An einer unscheinbaren Naht meiner Pilgersocke hat sich die Haut etwas aufgerieben und dann zu einer Blase entwickelt. Jetzt ist die Stelle mit einem großen Compeed-Pflaster verziert. Morgen werde ich wohl die Stiefel im Rucksack verstauen und mit meinen Keen-Sandalen weiterlaufen.
Qui habet aures audiendi, audiat! Sonntag, 3. Juli 2016: Von Miño nach Betanzos Die drei kleinen Flaschen Estrella von gestern Abend haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Wir haben in unserem "Männer-Schlafsaal" sehr gut geschlafen. Kein Wunder, wir waren alleine und keine störenden Aufbruchgeräusche von anderen Pilgern waren zu vernehmen. So wird es heute deutlich nach 7:00 Uhr, als wir unseren Betten Lebewohl sagen. Wir haben keine Eile, da nur rund 11 km bis Betanzos anstehen. Olli ist heute deutlich flotter als ich mit dem Packen, doch dann wird es auch für mich allmählich Zeit, dass ich meinen Rucksack vorbereite. Da müssen nämlich heute meine Wan-derstiefel mit rein, da ich in Sandalen laufen werde. Ich habe noch einmal getestet, ob ich mit meinem Begleiter Bernd in den Stiefeln laufen kann. Es hat aber keinen Sinn, da der Druck auf die betroffene Stelle trotz Blasenpflaster zu stark ist. Das muss ich mir nicht geben. Meine Sandalen sind ja schon in den vergangenen Jahren beim Pilgern erprobt und haben sich als eine sehr gute Alternative herausgestellt. Kurz nach 8:00 Uhr verlassen wir die Herberge. Vor uns sind die beiden älteren Spanierinnen auf die Piste gegangen, die jungen Studentinnen wirbeln immer noch zwischen Schlafsaal und Waschraum herum. Als wir aus der Herberge treten, werden wir von einem Schwarm Möwen lautstark begrüßt. Sie scheinen uns ein paar Meter begleiten zu wollen, drehen dann aber doch ab. Zunächst geht es eine Weile durch Miño. Wir sind überrascht, wie groß der Ort tatsächlich ist und wie wenig um diese Uhrzeit am Sonntagmorgen los ist. Einzig das Geräusch eines Staubsaugers ist auszumachen - ein Mann reinigt das Innere seines Autos. Es ist noch frisch, allerdings befinden wir uns zu dieser Uhrzeit auf der sonnenabgeneigten Schattenseite von Miño. Nachdem die Eisenbahnlinie über eine Brücke gequert wird, befinden wir uns in A Ponte do Porco, wo der Rio Lambre in die Ria de Betanzos mündet. Ab hier geht es auf grobem Gestein ein Stückchen steil auf-wärts und ich ziehe die hinteren Riemen meiner Sandalen hoch, damit ich nicht mit den Füßen herausrutsche. Bei jedem Schritt macht sich Bernd ein wenig bemerkbar, doch ich versuche ihn einfach zu ignorieren. Hilfreich ist dabei die herrliche Landschaft um uns herum. Wir durchlaufen grüne Waldabschnitte und alte, galizische Dörfer auf unterschiedlichstem Höhenniveau. Im Wald spielen unzählige Vögel Verstecken mit uns. Wir sehen sie so gut wie gar nicht, wir hören sie nur. Am Rande der Wege begleiten uns plätschernd und gluckernd kleine Bäche, die irgendwohin ins Tal hinabfließen. Am Ende eines langen Anstiegs werden wir mit der offenen Pforte der Iglesia San Pantaleon das Viñas belohnt. Das ro-mantische Kirchlein strahlt eine gewisse Ruhe aus, die uns nach dem Anstieg gut tut. Jetzt folgt endlich auch einmal eine Bergabpassage bis Viñas. Dort empfängt uns ein Schild mit dem Hinweis auf eine Bar mit Pilgerstempel - leider (noch) geschlossen. So laufen wir halt weiter, erneut geht es aufwärts zu einer Siedlung, wo uns ein krähender Hahn begrüßt. Er wollte uns wohl den Tipp geben, an der nächsten Bushaltestelle um die Ecke endlich mal eine Pause einzulegen. Das machen wir dann auch und verzehren das restliche Baguette vom gestrigen Abend. Nach einem letzten mühsamen Anstieg treffen wir an einer Kreuzung auf die Iglesia San Martin do Tiobre, die natürlich verschlossen ist. Ab jetzt wird es einfacher. Wir haben bereits freien Blick auf Betanzos und verlieren mal mehr, mal weniger an Höhe. Auf einem Abschnitt begleiten uns zwei kleine Hunde. Der kleinere schaut uns böse an und verfolgt uns laut kläffend, als würde er sein Revier gegen unerwünschte Eindringlinge verteidigen wollen. Die ersten Straßenzüge von Betanzos lassen schon etwas von der Schönheit der Häuser erahnen. An der ersten Kreuzung entdecken wir den Hinweis auf die Bar Vázquez, von dem wir zu gerne Gebrauch machen. Zwei Minuten später ist es per Glockenschlag 11:00 Uhr und wir bestellen zwei Bocadillos mit Käse und Schinken. Frisch gestärkt machen wir uns eine halbe Stunde später auf den Weg über den Río Mandeo und betreten durch ein altes Stadttor den mittelalterlichen Bereich der Stadt. Da die Her-berge noch bis 13:00 Uhr geschlossen ist, statten wir der Igrea Santa Maria do Azougne, der Igrea de San Francisco sowie der Igrea de Santiago Besuche ab. Daneben spazieren wir ein wenig durch die kleinen Gassen und erfreuen uns des Anblickes der typisch galizischen Häuser mit ihren breiten, vorgelagerten Erkern, die zuweilen über mehrere Stockwerke verlaufen. Pünktlich um 13:00 Uhr öffnet die Herberge und wir werden von Hospitalero Fernando aufgenommen. Er ist sehr herzlich, hilfsbereit und spricht gut Englisch, sodass wir eine rege Unterhaltung führen können. Von ihm bekommen wir einige gute Tipps für den heutigen Tag und die morgige Etappe. Wir sind wieder einmal die ersten Gäste in einer Herberge, die erst vor drei Jahren umgebaut wurde und sich in einem tadellosen Zustand befindet. Olli und ich sind froh mit diesem Glücksgriff. Nach einer erfrischenden Dusche besorgen wir uns zu allererst ausreichend Wasser für morgen, denn wir möchten gerne früh los und da wird wohl noch keines der Geschäfte geöffnet sein. Es ist gar nicht so einfach, an einem Sonntag um die Mittagszeit etwas einzukaufen. In einer Bäckerei entdecken wir im Vorbeigehen einige Wasserflaschen, die schnell den Besitzer wechseln. Fernando gibt uns nach unserer Rückkehr in die Herberge noch einen heißen Tipp für eine Pulperia und bestätigt freundlicherweise telefonisch unsere Unterkunft für den folgenden Tag bei Maria in Sigüeiro. Gerade schlagen die Glocken der Santiago-Kirche die sechzehnte Stunde. Ab jetzt sind die Gotteshäuser wieder geöffnet und wir ziehen los, um auch noch die Igrea de Santo Domingo anzusehen. Wir genießen den restlichen Tag in der Stadt und nutzen die Auswahl an Cafés und Bars mit Außenbereichen rund um die Hauptplätze, beobachten Menschen und die laut schreienden Möwen am Himmel. Bei einer weiteren Runde durch die Stadt und am Ufer des Río Mandeo gelangen wir noch einmal an die San Franziskus-Kirche, wo ich feststelle, dass dort um 18:00 Uhr ein Gottesdienst stattfindet, dem ich gerne beiwohnen möchte. Vor dem Gottesdienst wird noch ein Rosenkranz gebetet und die Messe beginnt dann doch deutlich später. Da habe ich wohl etwas falsch verstanden. Nach der Messe gehe ich zu-rück zur Herberge und hole Olli ab, denn ist es nun Zeit für das Abendessen. Wir wollen in die Pulperia gehen, die uns Fernando empfohlen hat. Olli wird zum ersten Mal Pulpo serviert bekommen und er scheint nicht abgeneigt zu sein. Der Pulpo schmeckt wirklich gut, hat aber auch seinen Preis. Es wird allmählich dunkler und wir schlendern zur Herberge zurück. Dort unterhalten wir uns ein wenig mit Fernando und bekommen noch ein spanisches Buch über den Camino Inglés geschenkt. Zudem empfiehlt er uns, unbedingt an der Costa da Morte (das ist der Küstenabschnitt zwischen Fisterra und A Coruña) Barnacles zu kosten. Damit meint er Entenmuscheln, die eigentlich zu den Rankenfußkrebsen zählen. Diese sind in der Region eine Delikatesse und als recht teure Spezialität beliebt. Über das Einsammeln der Entenmuscheln an gefährlichen Felsformationen an der galizischen Küste habe ich schon einmal einen Bericht gesehen. Dann wird es Zeit, uns von Fernando mit einer herzlichen Umarmung zu verabschieden. Mit ihm haben wir einen wahren Pilgerfreund kennen gelernt, der uns noch lange in Erinnerung bleiben wird. Anschließend beginnen wir mit der Vorbereitung auf die Nachtruhe. Es ist bereits sehr still im inzwischen gut gefüllten Schlafsaal. Übrigens, die Übersetzung der lateinischen Überschrift lautet: „Wer Ohren hat, zu hören, der tue sie auf!“
Ist sie nicht wunderbar - diese Schöpfung Montag, 4. Juli 2016: Von Betanzos nach Hospital da Bruma Um 5:40 Uhr ist heute die Nacht zu Ende. Wir wollen früh die Herberge verlassen, um bereits einige Kilometer in der noch kühlen Morgendämmerung zu pilgern. Pünktlich um 6:30 Uhr stehen wir auf der Straße und laufen in Richtung Plaza Galicia. Es sind kaum Menschen unterwegs. Nur eine kleine Gruppe Pilger schleicht herum und sucht eine Gelegenheit zum Frühstücken. Das verschieben wir auf unbestimmte Zeit nach hinten. Inzwischen haben wir uns daran gewöhnt, vor dem Frühstück ein bis zwei Stunden auf den Beinen zu sein. Irgendwo findet sich dann immer eine Gelegenheit. Wir verlassen Betanzos und es geht zunächst einmal steil aufwärts. Zum Glück dauert es nicht lange und wir laufen durch die reine Natur. Der Weg führt uns zunächst bis zur Überquerung der Autobahn mehrere Kilometer durch eine Wald- und Wiesenlandschaft. Hin und wieder passieren wir am Waldrand einige Häuser, die zur Gemeinde Limiñón gehören und die von bunten Blüten umrahmt sind. An einem mit mannshohem Gras zugewachsenen Sportplatz, bei dem gerade noch die Latten der Tore und die Dächer der Trainerbänke herausschauen, geht es in den Wald hinein, den wir aber wieder rasch verlassen können. Wir folgen danach dem Verlauf einer kaum befahrenen Straße und biegen bald auf einen Feldweg ab, der uns in Richtung eines eher spärlich besiedelten Gebietes bringt. Die kleine Igrea San Esteban de Cos ist natürlich verschlossen, aber von hier oben hat man bei klarer Sicht einen weiträumigen Blick auf die umliegenden bewaldeten Hügel. Die Gegend erinnert mich sehr an unsere heimischen Mittelgebirge. An einigen Stellen hat ein Unbekannter kleine Zettel mit Sprüchen hinterlassen. Zum Beispiel steht da drauf: „There is no path to peace, peace is the path (Gandhi)”. Die Landschaft wird immer schöner. Wir laufen durch Hohlwege, auf denen Eidechsen aus Furcht vor uns ihre sonnigen Plätze fluchtartig verlassen. Manchmal ist auch ein kleiner Vogel vor uns auf dem Weg, schaut uns an und fliegt dann einfach weg. Und wieder haben wir einen Anstieg vor uns. Zu beiden Seiten des Weges wächst Strauchwerk, aber der Boden ist übersät mit Wurzeln, die sich in allen Richtungen ihren Weg gebahnt haben. Schließlich sehen wir den Wegweiser zur Herberge von Presedo, die noch relativ neu sein soll. Wir weichen vom markierten Weg ein wenig ab und laufen auf die örtliche Kirche zu, in deren unmittelbarer Nähe sich der Festplatz und die Herberge befinden. Die Türe ist geöffnet und wir treten einfach ein. Drinnen werden wir erfreut von den spanischen Studentinnen begrüßt, die sich gerade für den Aufbruch fertig machen. Auf einem Tisch liegt der Stempel der Herberge, den wir uns direkt in unseren Pilgerpass drücken. Eine der jungen Frauen spricht etwas Englisch und erklärt uns den Weg zum Restaurant Meson-Museo Xente no Camiño, wo man etwas zu essen bekommen könne. Das ist zu diesem Zeitpunkt genau das, was uns heute Morgen zu unserem Glück fehlt. Zu dem obligatorischen Pilgerstempel des Gasthauses bekommen wir zusätzlich noch den Stempel der Gemeinde. Das Haus liegt unmittelbar an der Landstraße und ist aufgrund eines großen Hinweisschildes nicht zu übersehen. Von dem Restaurant sind wir total begeistert. Die Innenausstattung ist auf Mittelalter getrimmt. An den Wänden hängen unzählige gemalte Bilder von allen möglichen gesellschaftlichen Ständen der damaligen Zeit. Mit der Eigentümerin kann ich mich sogar ein wenig auf Französisch unterhalten. Das Ergebnis davon sind zwei Omelettes mit Käsefüllung zu einem kleinen Preis. Kurz bevor wir uns wieder auf den Weg machen wollen, trudeln auch die Spanierinnen ein und bestellen sich ebenfalls ihr Frühstück. Wir werden sie wohl heute Abend auch in der Herberge von Hospital de Bruma wiedersehen. Beim Verlassen des Hofes trifft gerade die nächste Pilgergruppe ein, die zunächst skeptisch ist, dann aber nach unserer Empfehlung doch einkehrt. Olli und ich wollen weiter, es ist inzwischen 10:30 Uhr und wir haben knapp die Hälfte geschafft. Wir tauchen wieder in die Natur ein und genießen herrliche Blicke in die saftig grüne Landschaft. Auf einer Wiese erholt sich ein Pferd, auf der nächsten versorgen sich Schafe mit ihrer Morgenmahl-zeit. Wir freuen uns an der Schönheit der Gegend und sind total begeistert. Diese unberührte Natur ist glücklicherweise noch nicht durch irgendwelche hässlichen Industrie- und Gewerbeanlagen verschandelt und gehört auch für die Zukunft davor bewahrt. In Vilacoba kehren wir für eine kurze Pause, und damit verbunden für ein kleines Bier, zur Mittagsstunde in der Bar Casa Julia ein. Danach hat der Schöpfer dieser tollen Umgebung eine beson-dere Herausforderung für uns parat: es geht steil aufwärts, und das für circa 2,5 km. Der Schweiß läuft gefühlt liter-weise aus den Poren und unser Tempo verringert sich schlagartig. Unterwegs überholt uns auf dem staubigen Pistenweg ein kleiner Laster, der die verstreuten Häuser mit Gasflaschen versorgt. Nach einer Ewigkeit haben wir den höchsten Punkt erreicht. Hier oben befinden sich Weideflächen, wo wir von braun und schwarz gefleckten Rindern kauend angestiert werden. Kurz darauf passieren wir an der Autobahn ein altes Steinkreuz, das mit Briefen, Steinchen und persönlichen Gegenständen von Pilgern bestückt ist. Wir überqueren die Autobahn und gelangen an ein Firmengelände, auf dem für vorbeiziehende Pilger ein Getränkeautomat bereitgestellt ist. Ich entlocke diesem eine Dose Cola, die ich zufrieden leere. Hin und wieder brauche ich neben den Unmengen an Wasser auch einmal etwas mit Geschmack im Mund. Olli und ich sind danach auf den verbleibenden fünf Kilometern so in einer Unterhaltung vertieft, dass wir zunächst gar nicht unseren Zielort mit Herberge realisieren. Es ist 14:30 Uhr, und vor uns sind gerade einmal vier Pilger in Hospital da Bruma angekommen. Die Herberge besteht aus einem Aufenthaltsraum mit Küchenzeile, einem Schlafraum im Erdgeschoß und einem weiteren im Obergeschoss. Olli und ich wählen das Doppelstockbett unter der Treppe nach oben, denn da ist drum herum deutlich mehr Platz vorhanden, als an den anderen Betten. Im Laufe des Nachmittags trudeln weitere bekannte Gesichter ein, die wir in der Herberge von Betanzos gesehen hatten: ein Vater mit seiner erwachsenen Tochter sowie eine dreiköpfige Familie aus Spanien und zu unserer Freude auch die beiden aus New York. Dazu gesellen sich eine amerikanische Familie, ein Slowene (mit dem ich mich intensiv unterhalte) und Jardi, eine kubanische Physiotherapeutin aus Alicante, die mit dem Großvater ihres Freundes unterwegs ist. Letztere haben gerade in der Küche eine große Portion Schnecken zubereitet, die sie jetzt genüsslich aussaugen. Sie bieten uns welche zum Kosten an, doch das ist nun wirklich nicht unsere Vorstellung von Nah-rung. Nach der Körper- und Kleiderwäsche setzen sich Olli und ich mit einer kalten Dose Bier aus dem Getränkeautomaten der Herberge auf die vorgelagerte Wiese und quat-schen ein wenig über unser Leben. Die freundliche Hospitalera beobachtet uns dabei sehr aufmerksam und reicht uns zwei Isomatten zum Draufsetzen, denn der Boden unter uns ist ein wenig feucht. Um 17:45 Uhr braust Applaus auf, denn die vier Stu-dentinnen ergattern die letzten freien Betten. Wir erfahren, dass sie sich wohl am Tag zuvor hoffnungslos verlaufen hatten, und auch heute sind sie eigentlich längst überfällig gewesen. Sie lassen sich aber anscheinend sehr viel Zeit und pausieren auch mal mehrere Stunden an einem Ort, wenn er ihnen gefällt. Schräg gegenüber der Herberge hat man neuerdings die Möglichkeit, im Restaurant Casa Grana etwas zu essen zu bekommen. Früher musste man bei Bedarf in auswärtigen Restaurants telefonisch Essen bestellen, das darauf angeliefert wurde. Alle sind froh, dass es diese Möglichkeit gibt, und das nutzen wir schon sehr früh am Abend aus. Wie in fast allen Restaurants am Jakobsweg bekommt man ein preiswertes Pilgermenü. Nachdem uns Maria, die Chefin des Hauses, die möglichen Speisen auf Deutsch vorgetragen hat, entscheidet sich Olli für ein Schnitzel, ich für einen Hähnchenschenkel, jeweils mit Suppe, Beilagen und Dessert. Das Menü ist üppig, es schmeckt sehr gut und wir lassen uns viel Zeit bei einem Glas Vino Tinto. So wird es doch später, als gedacht. Wir beide waren so ziemlich die letzten Gäste, die das Casa Grana verlassen haben. Auf dem Hof der Herberge treffen wir noch Sebastian, den Slowenen. Während ich mit ihm noch ein Bier trinke und erneut eine interessante Unterhaltung habe, macht sich Olli bettfein. Bei dem Gespräch stellen wir zum Beispiel fest, dass wir beide unsere Wurzeln in der Punkmusik haben. Gegen 23:00 Uhr liege ich dann auch in meinem Schlafsack.
Übernachtung bei einem Engel des Camino Inglés Dienstag, 5. Juli 2016: Von Hospital da Bruma nach Sigüeiro Heute Morgen wird es sehr früh unruhig in der Herberge, vor allem im oberen Stockwerk ist schon richtig was los. Wir lassen uns bewusst Zeit, denn wir wollen bei Maria im Restaurant gegenüber ein Frühstück einnehmen. Die gleiche Idee haben aber auch noch andere, und so sitzt nun mindestens gut die Hälfte der Herbergsbelegschaft im Gastraum vor einem gefüllten Teller. Es gibt dicke, getoastete Brotscheiben und Marmelade. Erst um 8:45 Uhr brechen wir auf, nur die spanischen Chicas lassen sich wie in den vergangenen Tagen viel Zeit und bleiben noch etwas sitzen. Olli und ich holen unser in der Herberge zurückgelassenes Gepäck und machen uns auf den Weg in eine noch graue, dunstverhangene Landschaft. Kurz hinter Hospital da Bruma durchlaufen wir die Siedlung O Seixo. Danach folgt wieder eine eher landwirtschaftlich geprägte Region mit vereinzelten Häusergruppen und rechter Hand eine Grube oder ein Steinbruch. Im Ortsteil O Castro der Gemeinde Ardemil hat ein Künstler einige Skulpturen aufgestellt, darunter Saurier und andere Tiere, aber auch einen überdimensionalen Pilger, vor dem wir natürlich posieren müssen. Ins Auge fällt auch eine gebogene Schienenkonstruktion, auf der in luftiger Höhe zwei Traktoren montiert sind. So richtig passt das aber nicht alles zusammen. Kurz darauf laufen wir zu James und seinen Vater aus New York auf. Ich unterhalte mich in den nächsten Minuten mit dem mit starkem amerikanischen Akzent sprechenden Mann. Manchmal muss ich nachfragen, weil ich nicht alles verstehe. Ich wundere mich sowieso, wie flüssig und ungehemmt ich mich mit ihm, aber auch mit anderen Pilgern, unterhalten kann. Das war für mich in der Vergangenheit immer etwas problematisch. Irgendwie hatte ich mir in den Kopf gesetzt, lieber gar nicht als falsches Englisch zu sprechen. Aber das ist völliger Blödsinn. Selbst im Gespräch mit Muttersprachlern wird man bei falscher Grammatik oder fehlenden Vokabeln nicht belächelt. James, den ich auf circa 13 oder 14 Jahre schätze, hat dann anscheinend genug davon und möchte wieder mit seinem Dad alleine weiterlaufen. Damit haben Olli und ich überhaupt kein Problem und ziehen von dannen. Der Weg führt uns nun auf wenig befahrenen Straßen und ein Waldstück nach Buscsas. Dort begrüßt uns im Ortsteil A Calle vor der Bar O Cruceiro Sebastian mit einem Bier in der Hand. Wir wundern uns, dass er bereits hier ist, denn er müsste eigentlich nach uns in Hospital da Bruma gestartet sein. An der nächsten Ecke entdecken wir die kleine örtliche Kirche San Paio da Buscas, die zu unserem Erstaunen geöffnet ist. Da lassen wir uns nicht zweimal bitten und schauen uns das für die Größe der Kirche erstaunlich prächtige Inventar an. Außerdem spreche ich leise vor mich hin ein kurzes Gebet für meinen verstorbenen Pilgerfreund Franz-Josef. Ein paar Schritte weiter befindet sich hinter einem Maschen-drahtzaun ein kleines von Enten und Schildkröten belebtes Areal. Darüber wacht ein stolzer Pfau, der allerdings seine Schönheit nicht mit Außenstehenden teilen möchte und sich uns höchstens von der Seite zeigt. Wenn er nicht will, dann eben nicht, wir haben auch unseren Stolz. Nun wechseln sich hübsche Hohlwege mit kleinen Straßen ab. Wir unterqueren eine breite Landstraße und verlaufen uns erstmalig, weil wir uns nicht auf die gelben Pfeile konzentrieren, sondern von der Schönheit eines Landhauses aus Bruchstein verleiten lassen. Zum Glück bemerken wir unseren Fehler bereits nach rund zweihundert Metern an einer kleinen Straße, die in unserer Karte überhaupt nicht vorgesehen ist. Wieder zurück an der Abzweigung, bemerken wir den eigentlich nicht zu übersehenden Monolithen, der eben anscheinend noch nicht vorhanden war. Gegen 11:30 Uhr machen wir eine Rast in Calle, dort bittet uns die Bar O Cruzeiro zu einem Imbiss, der aus Tortilla de patatas besteht. Und erneut wundern wir uns über Sebastian, der bereits hier ist. Entweder ist er an uns vorbeigeflogen oder er kennt eine gute Abkürzung. Gesehen haben wir ihn unterwegs jedenfalls nicht. Nach dem Snack wird es Zeit, wieder Staub unter die Füße zu bekommen. Zunächst pilgern wir auf angenehmen Waldwegen, dann geht es wieder vermehrt über Asphalt. In dem Örtchen Baizoia entdecke ich in einer Scheune einen Getränkeautomaten, dem wir zwei Dosen Shandi (Radler) entlocken können. Wir lassen uns das Kaltgetränk munden und laufen unter der Autoestrada do Atlántico durch. Danach wird es richtig schwierig für den Kopf, es geht gefühlt einige Kilometer lang auf einem Schotterweg, rechts und links gesäumt von Wald und Wiesen, in Richtung Sigüeiro. Unterwegs treffen wir vermehrt Pilger, die es sich im Gras gemütlich gemacht haben. Einige werden wir später in unserer Herberge wiedersehen. Endlich ist die langwierige Pilger-Autobahn zu Ende und wir sind in einem Gewerbegebiet am Rande von Sigüeiro gelandet. Über mein Handy navigiere ich uns zur Albergue de Delia, in der uns mein Pilgerfreund Stefan - der dort Dauergast ist - eingebucht hat. Dafür sei Stefan an dieser Stelle gegrüßt und gedankt. Wir treffen dort um 14:45 Uhr ein und werden von der Eigentümerin Maria mit einem Lächeln begrüßt. Sie zeigt uns die im ersten Stock eines von außen unscheinbaren Hauses eingerichtete Unterkunft, dann erledigen wir die Formali-täten. Maria hat ihre Albergue sehr liebevoll ausgestattet und bemüht sich sehr intensiv um das Wohl ihrer Gäste. An den Wänden hängen unzählige kleine, bunte Zettel, auf den die Gäste sich bei Maria für die liebevolle Aufnahme bedankt haben. Wir fühlen uns jedenfalls auf Anhieb sauwohl. Bereits vor uns sind Sunya, ihr Mann Steven und ihre Tochter Kathryn - ebenfalls aus New York - eingetroffen, die wir auch von gestern her kennen. Kathryn kann ganz gut Spanisch und unterstützt uns als Dolmetscherin. Maria kann nämlich außer Spanisch keine Fremdsprache. Dafür hat sie aber eine Menge an handgeschriebenen Blättern, auf denen mehrsprachig das steht, was man unbedingt wissen muss. Olli erzählt mir später, dass Kathryn und weitere Pilger in Hospital da Bruma der Meinung waren, ich sei ein Arzt. Ich habe keine Ahnung, wie sie darauf gekommen sind. Inzwi-schen sind wir geduscht und unsere Wäsche macht in der Waschmaschine einen Überschlag nach dem anderen. Maria hängt sie auf die Wäscheleine zum Trocknen. Später liegt alles ordentlich gefaltet im Aufenthaltsraum. Welch ein Service! Den Rest des Tages ruhen wir uns aus, gehen noch eine Klei-nigkeit essen und bereiten uns auf den Einzug in Santiago de Compostela vor. Zum Abendessen wählen wir heute eine Pizza. In dem Restaurant werden wir gebeten, in einem Raum im hinteren Bereich Platz zu nehmen. Dort läuft die Klimaanlage auf Hochtouren und wir kommen uns wie in einem überdimensionalen Kühlschrank vor. Olli versucht, einer Bedienung klarzumachen, die Klimaanlage doch bitte abzuschalten oder zumindest auf eine andere Stufe zu verstellen, doch irgendwie scheint die Kommunikation nicht zu funktionieren. Kurz darauf treten die vier Studentinnen in den Raum ein und begrüßen uns freudestrahlend. Auch ihnen gefällt die Kälte nicht, und - oh Wunder - sie schaffen es tatsächlich, dass die Anlage abgeschaltet wird. Auf dem Rückweg zur Herberge kaufen wir in einem Supermarkt Getränke für den nächsten Tag ein. Zum Abschluss des Tages sitzen wir ein wenig mit Maria im Wohnzimmer zusammen. Sie versorgt uns mit zahlreichen Tipps für die weitere Reise. Dazu gesellen sich noch Kathryn mit Familie und wir plauschen noch ein wenig über den Camino. Dann wird es Zeit für die Bettruhe. Hilfreich wird dabei sein, die Nacht in kuscheliger Bettwäsche, anstatt im Schlafsack, zu verbringen - eine weitere Annehmlichkeit unserer Albergue.
Tränenreicher Einzug nach Santiago Mittwoch, 6. Juli 2016: Von Sigüeiro nach Santiago de Compostela Olli hat heute Nacht sehr unruhig geschlafen. Er wird zum ersten Mal einen Camino in Santiago beenden. Für mich ist es nach dem vergangenen Jahr und dem Caminho Português das zweite Mal. Irgendwie bin ich ruhig und gelassen, fühle mich beinahe schon routiniert. Bevor der Wecker klingelt, steht Olli auf und macht sich frisch, kocht Kaffee und bereitet das Frühstück vor. Auch ich bin dann schnell aus dem Bett, habe ein menschliches Bedürfnis. Frühstück ist im Übernachtungspreis von 15 Euro enthalten, wir müssen uns halt alles aus den in der Küche vorhandenen Lebensmitteln selbst zubereiten. Wir verspeisen ein paar Scheiben Toast mit Marmelade und überlassen schließlich die Küche Kathryn und ihrer Familie. Dann halten wir es nicht mehr aus und schultern die Rucksäcke. Wir kommen zügig aus Sigüeiro heraus und laufen durch ein flaches, kühles Waldstück. Doch schon bald haben wir einen ersten, aber nicht so steilen, Anstieg vor uns. Endlich kommt auch die Sonne zum Vorschein und sorgt für wohlige Wärme. Nach rund 5 Kilometern entdecken wir in Marantes am Wegrand ein Hinweisschild auf die Bar A Fontiña. Den kleinen Umweg zu der Bar, die an einer Landstraße liegt, nehmen wir gerne in Kauf. Wir genehmigen uns ein Heißgetränk sowie den dazu gereichten Kuchen. Das tut gut und sorgt zudem für den ersten von zwei notwendigen Stempeln für den heutigen Tag. Wieder zurück auf dem markierten Weg, werden wir vornehmlich durch die Natur geführt und es wartet noch einmal ein längerer Anstieg auf uns. Plötzlich wird es wie aus dem Nichts laut. Aus einem Seitenweg taucht eine größere Schülergruppe vor uns auf, die sich aber am Rande eines Gewerbegebietes zu einer Rast niederlässt. Direkt gegenüber befindet sich die Bar Poligono, wo wir letztmalig vor Santiago einkehren. Dort treffen wir die Familie, die wir erstmals in Betanzos und dann in Hospital da Bruma getroffen haben. Heute unterhalten wir uns auch einmal, dazu gab es in den vergangenen Tagen keine Gelegenheit. Dabei stellt sich heraus, dass sie aus Novo Sancti Petri, südlich von Cadiz gelegen, kommt. Hier war ich mit meiner Familie und einer Gruppe von Freunden bereits neunmal zum sportlichen Aktivurlaub in den Osterferien. Ich liebe diese Gegend in Andalusien. Zufälle gibt es! Wir durchqueren das Gewerbegebiet und erreichen die ersten Ausläufer von Santiago. Dabei kommen wir zwei Pilgern näher, die sich als Jardi mit dem Großvater ihres Freundes herausstellen. Es entwickelt sich eine nette Unterhaltung. Jardi kann ein wenig Englisch. An der nächsten Straßenecke müssen wir nach links abbiegen. Hier können wir schon in der Ferne die Turmspitzen der Kathedrale erblicken. Wir laufen gemeinsam an einem kleinen Park vorbei und kommen über die Avenida de Xoán XXIII dem Zentrum von Santiago immer näher. Mich überkommt ein sentimentaler Augenblick, meine Schritte werden langsamer und kürzer, als wolle ich das Ankommen herauszögern. Die ersten Tränen kullern schon aus den Augen. Der Zeitpunkt ist wohl jetzt gekommen, zu dem der Pilger auf dem diesjährigen Camino weinen muss. Wir passieren die Igrexa de San Francisco und der Tränenfluss will nicht mehr aufhören. Von der linken Seite her bieten uns Verkäuferinnen eine Probe ihrer Tarte de Santiago an, für die ich in diesem Moment aber kein Interesse zeige. Ich genieße diese letzten Meter auf der wenig belebten Rúa de Francisco bis zur Plaza de Obradoiro noch intensiver als im vergangenen Jahr. Punkt 11:00 Uhr treffen wir dort mit dem letzten Glockenschlag auf der Plaza ein. Es ist ein umwerfender Augenblick, wieder vor der Kathedrale stehen zu dürfen. Ich möchte am liebsten die ganze Welt umarmen und greife mir einfach meine Begleiter der letzten Kilometer. Jardi und der Großvater verabschieden sich herzlich von uns. Olli und ich setzen uns auf das Pflaster des Platzes und starren in Richtung Kathedrale. Im vergangenen Jahr war noch viel mehr von der Front mit Transparenten verdeckt und es ist deutlich der Fortschritt bei den Sanierungsarbeiten zu erkennen. Zum nächsten heiligen Jahr 2021 soll dann die komplette Kathedrale in frischem Glanz erscheinen und die ankommenden Pilger erfreuen. Wir beide haben es jetzt eilig, denn es dauert nicht mehr allzu lange, bis der Pilgergottesdienst um 12:00 Uhr beginnt. Wir lagern unsere Rucksäcke in einem gesonderten Raum des neuen Pilgerbüros in der Rúa Carretas und machen uns dann wieder auf den Rückweg zur Kathedrale. Leider ist kaum noch Platz in der Kirche. So müssen wir uns mit einem Stehplatz im hinteren Bereich des Mittelschiffes begnügen. In den letzten Sitzbänken sehen wir Kathryn, Sunya und Steven und winken ihnen grinsend zu. Dann beginnt der Gottesdienst und bei mir lösen sich wiederum die Tränen aus den Augen. Die Messe ist sehr emotional für mich. Meine Gedanken sind bei meiner Familie und der Verwandtschaft, meiner verstorbenen Oma und Tante, bei meinem verstorbenen Pilgerfreund Franz-Josef und meinem langjährigen Begleiter Jörg, der dieses Jahr nicht mit mir unterwegs sein kann. Ich bin dankbar für den bisherigen Weg, den ich mit Olli gehen durfte. Es hat unheimlich viel Spaß gemacht und ich denke, wir haben uns gegenseitig ein bisschen besser kennengelernt. Zu unserer Überraschung wird am Ende der Messe der Botafumero mit Weihrauch gefüllt und durch das Querschiff geschwenkt. Das haben wir heute einer Pilgergruppe aus Japan zu verdanken. Es ist für mich der dritte Pilgergottesdienst in der Kathedrale in Santiago, und jedes Mal wurde der Botafumero eingesetzt. Nach der Pilgermesse gehen wir, noch etwas innerlich aufge-wühlt, zurück zum Pilgerbüro, schließlich müssen wir unsere Compostela abholen. Wir reihen uns in die Schlange ein und brauchen gar nicht so lange zu warten, bis wir dran kommen. Das neue Pilgerbüro ist modern eingerichtet, deutlich geräumiger und heller als das alte. Am ausgewiesenen freien Schalter erhalten wir unsere Pilgerurkunden und lassen uns gleich neue Pilgerausweise ausstellen. Anschließend holen wir unsere Rücksäcke aus dem Aufbewahrungsraum ab und machen im Innenhof des Gebäudes ein paar Erinnerungsfotos. Für ein gemeinsames Bild bitten wir einen Spanier, den wir gestern irgendwo auf der Strecke schon einmal getroffen hatten. Auf dem Weg zu unserer Unterkunft werden wir von einer Frau angesprochen, ob wir ein Zimmer benötigten, was wir aber verneinen, da wir bereits in der Hospedería San Martin Pinario eingebucht sind. Leider merke ich zu spät, dass es sich bei der Dame um die Tochter unserer letztjährigen Vermieterin handelte. Wir bekommen ein Zimmer im dritten Stockwerk und haben aus dem Fenster einen großartigen Blick auf den Convento und die Igrexa de San Francisco. Man kann hier im Hause zwar auch für weniger Geld eine Pilgerunterkunft bekommen, aber wir wollten uns etwas gönnen. Das Gebäude war vom 16. bis 19. Jahrhundert ein Benediktinerkloster. Diesem Umstand ist auch die eher spärliche, aber trotzdem gemütliche Ausstattung des Zimmers, geschuldet. So nimmt man als Gast ein wenig von der Atmosphäre einer Mönchszelle auf, ohne auf modernen Komfort zu verzichten. Die Betten sind sogar mit bronzefarbenen Jakobsmuscheln verziert. Nun heißt es: duschen, frisch machen und die Stadt erkunden. Wir gehen noch einmal in die Kathedrale - natürlich durch die Heilige Pforte, die ja wegen dem von Papst Franziskus ausgerufenen Jahr der Barmherzigkeit geöffnet ist. Zudem nutzen wir die Gelegenheit zu einer Umarmung der Jakobusstatue und begeben uns anschließend in die Krypta zum Grab des Jakobus. Hier unten entzünde ich eine Kerze für Franz-Josef sowie die für Lebenden und Verstorbenen meiner Familie. Erst nach einer guten Viertelstunde verlasse ich die Krypta. Olli tut es mir gleich, bringt eine Kerze zum Brennen und bleibt eine Weile in Gedanken versunken neben mir stehen. Es kommen immer noch Pilger in Santiago an, vor Freude strahlend, singend, tanzend. Wir folgen einer Gruppe auf die Plaza de Obradoiro und treffen dort Sebastian mit einer Dose Bier in der Hand, angelehnt an einem Pfeiler des Pazo de Raxoi (darin befindet sich ein Teil der Stadtverwaltung von Santiago). Wir unterhalten uns noch ein wenig mit ihm und verabschieden uns, denn er wird erst einen Tag nach uns auf den Camino Fisterra gehen. Auf unserem weiteren Rundgang durch Santiago treffen wir weitere Pilger, die wir in den vergangenen Tagen kennengelernt haben. Darunter sind der Vater von James, die Familie aus Andalusien und Vater und Tochter, die - wie wir erfahren - in O Porriño am Camino Português leben. Die beiden sehen wir wohl in den nächsten Tagen noch öfters, denn auch sie werden morgen den gleichen Weg wie wir nach Fisterra einschlagen. Leider muss ich feststellen, dass das kleine Lädchen, in dem ich vergangenes Jahr meine ganz spezielle Pilgermuschel bekam, nicht mehr existiert. Das Schaufenster ist abgedunkelt, der Eingang mit einem Vorhängeschloss gesichert. Schade! Da muss ich mich weiter nach einer handbemalten Muschel umsehen, die mir gefällt. Zum Abschluss des Abends kehren wir in einer Pulperia ein und nehmen unser Abendessen zu uns. Olli wählt ein Schweinefleischragout, ich entscheide mich für Pulpo. Danach wird es Zeit, wieder in die Unterkunft zurückzukehren, denn morgen wollen wir um 7:30 Uhr frühstücken und uns danach direkt auf den Weg machen.
Die letzten Betten gehören uns 2.0 Donnerstag, 7. Juli 2016: Von Sigüeiro nach Santiago de Compostela Jetzt haben wir schon die zweite Nacht hintereinander in Bettwäsche verbracht und sehr gut geschlafen. Das Frühstück im großräumigen, ehemaligen Refektorium des Klosters ist heute inbegriffen, und das ist für spanische Verhältnisse richtig gut. Es gibt grob zerteilte Brotscheiben, Wurst, Käse, Marmelade, aber auch Tortilla, frisches Obst, Müsli - was will man mehr. Wir lassen uns viel Zeit und verlassenen erst sehr spät - nämlich um 8:45 Uhr - das Hotel. Zunächst geht es am Parador vorbei, die Treppen runter und geradeaus durch die Rúa das Hortas und die Rúa de San Lorenzo zu dem kleinen Park Carballeira de S. Lourenzo. Hier befindet sich der erste Monolith mit Kilometerangaben nach Fisterra und Muxía, außerdem beginnt auch wieder die Wegmarkierung in Form von gelben Pfeilen. Wir treffen eine Französin, die wir ein Stück begleiten und dann doch noch überholen. Ihr Tempo ist uns einfach zu langsam. Kurz danach rasen zwei sportlich aussehende Spanier den folgenden leichten Anstieg an uns vorbei. So viele andere Pilger haben wir auf dem Camino Ingles unterwegs noch nicht gesehen, hier ist richtig was los. Olli und ich werden sicher mittels guter Markierungen über kaum befahrene Straßen, schöne Waldwege und durch ansehnliche Dörfer geführt. In einem kleinen Waldstück lauern hinter einer Biegung zwei Fotografen, die anscheinend Erinnerungsbilder für vorbeiziehende Pilger erstellen und verkaufen wollen. Anscheinend sind wir aber etwas zu früh, denn die beiden sind noch nicht ganz fertig mit ihren Vorbereitungen. An einer Wegegabelung gehen wir an einem kleinen Zelt vorbei, in dem die beiden darin liegenden (es stehen zwei Paar Wanderschuhe davor) wohl noch süß träumen. Die haben es wohl heute nicht eilig. Kurz vor Ventosa machen wir in der Bar Meson Alto do Vento eine kurze Rast und lernen Nathalie aus der Schweiz und Klaus aus Stuttgart kennen. Es geht entlang einer Landstraße eine Weile abwärts, dann erwartet uns der Hammer des Tages: auf rund drei Kilometern Länge erklim-men wir den Alto do Mar de Ovellas mit einem Anstieg von rund zweihundert Höhenmetern. Der Schweiß läuft wieder in Strömen und wir sind froh, dass wir bei rund 30° unbeschadet vorwärts kommen. Auf dem Weg zum Gipfel überholen wir einige Pilger, die schwer zu kämpfen haben. Auch die beiden Spanier, die vorhin noch ein flottes Tempo draufhatten, lassen wir abgekämpft auf einer Ruhebank links sitzen. Wir sammeln immer mehr Pilger ein, darunter auch Vater und Tochter aus O Porriño. Insgesamt werden es heute rund 25 Personen sein, die wir hinter uns lassen. Dabei sind wir gar nicht so schnell unterwegs. Die nehmen uns schon mal kein Bett in Negreira weg. Nach einer kurzen Passage erreichen wir in Ponte Maceda eine wunderschöne alte Brücke, die eine traumhafte Kulisse für Fotos abgibt. Das nutzen wir gerne aus und lassen uns von anderen Pilgern ablichten. Olli hat da keine Hemmungen und spricht einfach den Erstbesten - einen Italiener - in der Nähe an, und schon macht es klick, klick. Bis Negreira sind es jetzt noch vier Kilometer, die man mehr oder weniger in der Nähe des Rio Tambre entlangläuft. An einer Baufirma verlassen wir den Fluss und steigen einen kleinen Hügel empor. Kurz darauf erreichen wir das Zentrum von Negreira, wo sich in einer kleinen Hütte eine Pilger-Information befindet. Die junge Frau ist sehr hilfsbereit und teilt uns mit, dass in der öffentlichen Herberge noch drei Betten frei seien. Oh, oh… Die Herberge liegt etwas außerhalb der Stadt und ist zu Fuß in einer guten Viertelstunde erreichbar. Aus dieser Viertelstunde werden bei Olli und mir zehn Minuten. Der Lohn für dieses „Wettrennen“: wir ergattern um 14:15 Uhr tatsächlich noch zwei der freien Betten. Wir legen der Hospitalera unsere Pilgerausweise vor, zahlen unseren Obolus und bekommen zwei Betten im Erdgeschoss zugewiesen. Das Zimmer ist eigentlich für behinderte Pilger und deren Begleiter vorgesehen und verfügt über zwei Dop-pelstockbetten. Zwei der Betten sind von Fuji und einem Freund aus Japan belegt, die gerade in der Stadt einkaufen sind. Im oberen Geschoss befinden sich auch noch sechzehn Betten in zwei Schlafräumen. Weiterhin sind ein Italiener, vier Deutsche, Vater und Tochter (die am Abend von ihrer Familie Besuch erhalten) und einige behinderte Gäste mit ihren Betreuern zugegen. Nachdem wir unsere Wäsche versorgt und in die Sonne hinter der Herberge aufgehängt haben, setzen wir uns ein wenig in den Aufenthaltsraum und blättern in unseren Unterlagen. Dabei lernen wir Miriam, Jette, Feline und Emi kennen, Schülerinnen aus Halle an der Saale, die gerade in der benachbarten Küche eine Mahlzeit zubereiten. Sie haben bereits Sommerferien und sind zweihundert Kilometer auf dem Camino Frances gelaufen. Emi erstellt für die Schule eine Jahresarbeit zum Thema Jakobsweg und der praktische Anteil besteht halt aus einem Stück Wegerfahrung. Wir unterhalten uns über Sinn und Zweck des Pilgerns, über Motivation und Antrieb. Es ist eine interessante Unterhaltung. Vor allem ist es schön, sich wieder einmal mit Landsleuten in der eigenen Sprache zu unterhalten. Gegen 16:00 Uhr gehen Olli und ich in die Stadt, um einzukaufen. Wir wollen heute Abend auch etwas kochen. Doch zunächst nehmen wir an einem kleinen Tisch im Außenbereich der Cerveceria Galaecia Platz und gönnen uns ein kaltes galizisches Bier. Im örtlichen Supermarkt fällt unsere Wahl auf Pasta mit Thunfisch-Tomatensoße, dazu gönnen wir uns ein Sixpack Estrella. Wieder zurück in der Herberge, wollen wir sofort kochen, doch unsere japanischen Mitbewohner haben noch den großen Kochtopf in Beschlag. Damit unser Bier nicht zu viel an Temperatur verliert, deponiert Olli die Flaschen in eine Schüssel mit eiskaltem Wasser. Endlich steht uns der Topf zur Verfügung und nur eine halbe Stunde später sitzen wir draußen an einem kleinen Tisch und verspeisen einen Berg Nudeln. Während der Zubereitung unserer Mahlzeit stellen wir fest, dass es noch einen weiteren Topf gibt, den wir aber übersehen haben.
High Noon am Monte Aro Freitag, 8. Juli 2016: Von Negreira nach Olveiroa Bevor ich zu den Erlebnissen des Tages komme, mache ich noch einen Rückblick auf den verbliebenen gestrigen Abend. Eigentlich wollten wir den Tag bei einem kleinen Estrella ausklingen lassen, aber es kam dann doch etwas anders. Zunächst trudelten drei Franzosen in die Herberge ein, die eigentlich „completo“ war. Da sie jedoch hinter dem Haus ihre Zelte aufschlagen und nur die Dusche nutzen wollten, war alles in bester Ordnung und keiner der übrigen Gäste hatte etwas dagegen. Kurz darauf erschienen Sibille und Leonhard aus Innsbruck, die bisher den Camino del Norte gelaufen waren. Auch sie entschlossen sich spontan, mit ihren Schlafsäcken draußen zu übernachten. Mit den beiden kamen wir in ein sehr schönes Gespräch, das durch das Eintreffen zweier weiterer Personen unterbrochen wurde. Es handelte sich um einen Deutschen mit seiner spanischen Begleiterin, denen die Outdoor-Übernachtung ebenfalls recht war. Nun führten wir zu fünft eine tolle Unterhaltung. Der junge Mann stammt aus Zwickau, hat im Westerwald Schmied gelernt und lebt nun in Vigo. In Gedanken taufe ich ihn auf den Namen „Der Schmied“. Er erzählt in einem nicht unangenehmen Redeschwall über seine Camino-Erlebnisse, darunter eine fesselnde Geschichte zu Fisterra und Muxía: „Jeder Schritt auf dem Jakobsweg und nach Fisterra ist ein Tag deines Lebens. Am Kilometerstein 0 ist alles zu Ende und du stirbst. Gehst du jedoch weiter nach Muxía , wirst du wiedergeboren und alles beginnt erneut.“ Olli und ich können diese Interpretation für uns nachvollziehen. Nach dieser Idee, die ganz gut in das eigene Leben eingepasst werden kann, bist du am Ende deiner Pilgerreise in Fisterra - am Ende der Welt - und legst deinen mitgeführten Ballast der Vergangenheit ab. Mit der Reinkarnation in Muxía führst du ein neues, verändertes Leben. Gegen 23:00 Uhr überkam uns dann doch die Müdigkeit und wir zogen uns so ziemlich als letzte zu unseren Schlafplätzen zurück. Kurz darauf ertönten draußen ein paar Kanonenschläge. Neugierig stand ich auf, um nachzusehen. In Negreira wurde ein kleines Feuerwerk abgebrannt und da-nach war wieder alles ruhig. Das nächste Feuerwerk ver-nahm ich gegen 3:15 Uhr, als ich von lauter Musik wach wurde. Ich konnte es kaum glauben, aber in der Stadt fand mitten in der Nacht ein Konzert statt. Unglaublich! Die Vorbereitung für den heutigen Tag beginnt um kurz nach 5:00 Uhr, eine Stunde später stehen Olli und ich in den Startlöchern. Einige Pilger sind bereits unterwegs. Wir verlassen direkt hinter den vier Mädels die Herberge und tauchen in die Dunkelheit ein. Ja, es ist draußen noch fast stockdunkel. Die erste Passage durch ein Waldstück beleuchtet uns Olli mit der Taschenlampe seines Handys, sonst wäre es bei jedem Schritt schwierig. Die Mädels sind flott unterwegs und schon bald aus unserem Blickfeld entschwunden. Dafür sind zahlreiche andere Pilger unterwegs, die wir vorher noch nie gesehen haben. Nach 12 Kilometern machen wir in der Bar Herminio A Nosa Casa in Vilaserio erstmals Rast und lernen einen Pilger aus Frankfurt kennen. Zudem kommen kurz nach uns Fuji und sein Begleiter an und lassen sich erschöpft nieder. Hier gibt es Stempel sowohl von der Bar als auch von der angegliederten Herberge O Rueiro. Wir kommen heute gut voran und wollen wieder in der öffentlichen Herberge übernachten, die zweiunddreißig Betten bietet. Wir laufen vornehmlich auf kleinen, wenig befahrenen Straßen. Vor und hinter uns sind so viele Menschen unterwegs nach Fisterra, wie wir es noch nicht erlebt haben. Einige sind sehr offen, andere sehr in sich eingekehrt. Mitten auf einem schmalen Wirtschaftsweg treffen wir Emi und ihre Freundinnen, die sich zu einem kleinen Imbiss im Schatten von ein paar Bäumen niedergelassen haben. Am Rande des Weges befinden sich überwiegend landwirtschaftliche Nutzflächen, über die man bei inzwischen blauem Himmel wunderbar in die Weite schauen kann. In Santa Mariña haben wir weitere acht Kilometer hinter uns gebracht und die Temperaturen steigen allmählich an. Nur wenige Schritte abseits des Weges befindet sich die Bar Casa Pepa, deren Verlockung wir nicht widerstehen wollen. Ein kühles Getränk wirkt Wunder und bringt zusätzliche Motivation zum Weiterlaufen. Und Motivation brauchen wir jetzt. Der Schmied hat uns schon vor dem grünen Berg gewarnt. Damit hat er den Monte Aro gemeint, der sich vor uns auftürmt. Bevor es aufwärts geht, laufen uns in Santa Mariña an der Landstraße die Mädels über den Weg und berichten stolz über ihre Bleibe für die Nacht. Sie haben ein kleines Häuschen für sich ganz alleine bekommen. Olli und ich müssen zum Glück nicht bis ganz nach oben auf den Monte Aro, sondern umlaufen ihn überwiegend. Während des Abstieges haben wir einen herrlichen Ausblick auf einen größeren See, dem strahlend blau erscheinenden Encoro da Fervenza. Es geht weiter durch kleine Dörfer, die von zahlreichen Horreros (Kornspeicher) umgeben sind. Nach knapp 33 Kilometern haben wir mit dampfenden Füßen die Königsetappe unserer Pilgertour mit einer Gehzeit von 6:25 Stunden ganz gut hinbekommen. Wir finden schnell die Pilgerherberge in Olveiroa, die sich auf mehrere Häuser eines alten Bauernhofes verteilt, und wir können uns im großen Haus ein Bett aussuchen, da wir dort die ersten sind. Die Hospitalera wird erst um 19:00 Uhr zur Registrierung erscheinen. Die Zeit nutzen wir zu unseren täglichen Nachbereitungen, die auch in der benachbarten Bar O Peregrino stattfinden. An unseren Tisch gesellt sich etwas später Klara, Studentin aus Bonn, die vor ziemlich genau vier Monaten von zuhause aus durch Frankreich und dann auf dem Camino del Norte und dem Camino Primitivo nach Santiago unterwegs war. Sie ist eine angenehme Gesprächspartnerin, mit der wir uns längere Zeit über ihre Erfahrungen in einer sehr entspannten Atmosphäre unterhalten. Als Gegenleistung erhält sie von uns beiden zahlreiche Tipps für einen geplanten Marathonlauf im kommenden Jahr. Die Zeit vergeht wie im Fluge, bis ich auf einmal ein leichtes Brennen auf den Schultern feststelle. Da habe ich mir doch glatt einen Sonnenbrand eingefangen. Im Laufe des Nachmittags füllt sich die Herberge. Eine ungarische Pilgerin, die wir schon öfters gesehen, aber sehr wenig gesprochen haben, sowie zwei Italienerinnen und zwei Spanier, belegen die verbliebenen Betten in unserem Schlafraum um Untergeschoss. Zum Abendessen gehen wir wieder zur O Peregrino und bestellen uns das Pilgermenü. Mit uns am Tisch sitzen Nathalie, Klara und Klaus. Wir verbringen einen schönen Abend zusammen und tauschen uns über unsere sehr unterschiedlichen Wege aus. Allmählich dämmert es und der Himmel zieht sich ein wenig zu. Das ist für uns das Signal, dass wir die Zeit ein wenig vergessen haben und jetzt dem Körper doch die verdiente Ruhe gönnen sollten.
Wo der Atlantik den Horizont küsst... Samstag, 9. Juli 2016: Von Olveiroa nach Cee Die Nacht verlief sehr ruhig, aber um 5:00 Uhr beginnen die ersten, ihre Sachen zusammenzupacken. Die meisten wollen heute bis Fisterra durchlaufen, und das sind immerhin gut 33 Kilometer. Da Olli und ich nur bis Cee pilgern wollen, drehen wir uns einfach noch einmal um. Erst gegen 7:00 Uhr beginnen wir mit den Vorbereitungen für den Tag, um 8:00 Uhr verlassen wir als letzte die Herberge. Zunächst geht es nur bergauf zu einem Höhenweg. Dort überholen wir die Behindertengruppe mit ihren Betreuern und werden freundlich gegrüßt. Links unter uns wird der Rio Xallas aufgestaut. Hinter einem Damm stürzt er mit lautem Geräusch in ein Seitental hinein. Nach einer guten Dreiviertelstunde erreichen wir die Bar und Herberge von Logoso, wo sich gerade Miriam, Jette, Fine und Emi die Rucksäcke aufschnallen und ihre Pause beenden. Wir reden noch ein wenig über unsere letzten Unterkünfte. Während wir es gut getroffen hatten, waren die Mädels wohl nicht ganz zufrieden. Zudem erfahren wir, dass die Vier heute in derselben Herberge in Cee übernachten werden wie wir. Zu uns gesellt sich nun ein Ehepaar aus Füssen, das bis vor vier Jahren noch am Niederrhein lebte. Wir unterhalten uns ein wenig über ihren Jakobsweg. Hier trifft sich halt die Welt! Wir nehmen ein kleines Frühstück ein - es gibt ein überbackenes Bocadillo - und laufen gut gelaunt weiter. Der leicht aufwärts führende Weg bringt uns nach Hospital, wo sich mitten auf der Kreuzung ein modernes Gebäude befindet. Darin ist eine Informationsstelle für Pilger eingerichtet, in der wir von einer netten jungen Frau mit reichlich Material über den weiteren Verlauf versorgt werden. An einer Straßenkreuzung auf Höhe einer Fabrik teilt sich der Weg. Links geht es nach Fisterra, rechts nach Muxía. An der Kreuzung trifft nach uns ein junges Pärchen aus Mainz ein, das ein paar Fotos von uns macht. Wir wählen, wie geplant, die erste Variante und gelangen zu einem Pistenweg, der uns durch eine karge Landschaft führt. In der Umgebung drehen sich auf den naheliegenden Höhenzügen Windräder, deren leises Geräusch vom Wind bis hierhin getragen wird. Es dauert nicht mehr lange, da taucht am weiten Horizont bereits ein schmaler Streifen Blaues auf: der Atlantik. Auch wenn dieser Landstrich nicht so stark bewachsen ist, hat er trotzdem seine Reize. An der Capella da Nossa Senhora das Neves, mitten in einem Waldgebiet, rasten gerade unsere Pilgerbekanntschaften aus Halle und Mainz. Nach einem kurzen Wortwechsel ziehen Olli und ich weiter. Der folgende Abschnitt über die Schotterpiste ist nicht so schön, dafür entschädigt er mit wunderschönen Ausblicken, nicht nur in Richtung Ozean, sondern auch ins Landesinnere. Dann kommt der Augenblick, wo wir erstmals Fisterra und das Kap mit dem Leuchtturm in der Ferne erkennen können. Wir verlieren nun rasch an Höhe und haben das Gefühl, auf einer großen Tribüne langsam abwärts gefahren zu werden. Dabei öffnet sich der Blick auf die Ría de Corcubion und Cee immer mehr. Uns wird ein Schauspiel präsentiert, das seinesgleichen sucht. Zwischen dem strahlend blauen Meer und dem nur leicht abweichenden Farbton des Himmels scheint es keinen erkennbaren Übergang zu geben. Es ist einfach ergreifend, einer solchen Inszenierung beizuwohnen bzw. ein Teil derselben zu sein. Wir verlassen für einen Mo-ment den Weg und schlendern zu einem alten Steinkreuz. Von dieser Stelle hat man einen tollen Ausblick auf Cee. Olli und ich steigen weiter ab und bekommen vor Staunen den Mund kaum noch zu. Das soll der Weg zum Ende der Welt sein? Hier geht es eher ins Paradies! In Cee checken wir in der ausnahmsweise vorab gebuchten Albergue A Casa da Fonte ein. Ich hatte zu Hause die Befürchtung, dass hier solche Massen an Pilgern unterwegs und die Kapazitäten der verfügbaren Betten nicht ausreichend seien. Wir werden von Guzman begrüßt, dem Betreiber der Herberge. Die Unterkunft ist hell, einfach, großzügig und mit allem versehen, was der Pilger braucht. Dazu gehören Steckdosen, verschließbare Schränke, Waschmaschine, Trockner und eine kleine Küche. Die Duschen sind neuwertig und sehr sauber. Hier fühlen wir uns sofort wohl. Kurz nach uns erreichen auch die Mädels ihr Tagesziel und wir beschließen, heute gemeinsam zu kochen. Später gesellen sich noch eine ältere Dame aus Deutschland und eine junge Spanierin zu uns. Nach dem Einkauf verschwinden Miriam, Jette, Fine und ich in der Küche und bereiten Salat, Nudeln und Soße vor. Olli hängt in der Zwischenzeit die Wäsche von uns allen auf, die während des Einkaufes in der Waschmaschine war. Dann bitten die Köche zu Tisch und es schmeckt vorzüglich. Wir sind schon eine tolle Truppe. Nach dem Abwasch verschwinden die meisten in ihren Schlafsäcken und dösen vor der Nachtruhe schon ein wenig vor sich hin.
Es gibt keine Zufälle in Fisterra Sonntag, 10. Juli 2016: Von Cee nach Fisterra Eigentlich sollte in der vergangenen Nacht die gleiche Band spielen wie vor zwei Tagen in Negreira. Selbst die Uhrzeiten sollten identisch sein, also wieder einmal zur Schlafenszeit. Glücklicherweise kam der Schall nicht so intensiv bis zu unserer Herberge herüber, so dass wir sehr gut geschlafen haben. Für 8:00 Uhr haben Olli und ich Frühstück bei Guzman bestellt. Die Mädels machen sich über die Reste des Abends her, während wir Toast mit Marmelade verzehren. Um 8:30 Uhr sind wir soweit fertig, dass wir uns verabschieden wollen. Einen Eintrag in das Gästebuch von Guzman und seiner Lebensgefährtin Maria haben wir bereits verfasst. Wir bedanken uns ganz herzlich für die Aufnahme in dieser tollen Herberge. Da zeigt sich auch die eigene Pilgererfahrung, die in die Gestaltung des Hauses Einzug gehalten hat. Ich kaufe mir noch einen schönen silberfarbenen Muschelanhänger und dann wollen wir wirklich los. Da entdeckt Maria an meinem Rucksack meine Ledermuschel, die sie wohl schon einmal bei einem anderen Pilger gesehen hat. Ich flüstere Olli zu, er möge bitte die Muschel von der Schlaufe lösen und mir geben. Dann schenke ich Maria das handwerklich gearbeitete Teil. Sie kann es gar nicht fassen und man sieht ihr die Freude darüber an. Als Dank erhalte ich einen glücklichen Blick aus Marias feuchten Augen und eine herzliche Umarmung. Bisher habe ich diese Muschel noch nie an meinem Rucksack festgemacht, geschweige auf eine Pilgerreise mitgenommen. Warum ich sie dieses Mal mitgenommen habe, wusste ich bis gerade eben noch nicht. Jetzt weiß ich, warum. Ich bin sehr zufrieden mit meiner spontanen Entscheidung. Zuhause bekomme ich bestimmt wieder eine neue Muschel, die ich dann als Erinnerung an dieses herzliche Erlebnis immer am Rucksack baumeln lasse. Blöderweise ist es draußen sehr trüb, es fällt feiner Nieselre-gen. Ich wechsele mal schnell von Sandalen auf Wanderstiefel und dann ziehen wir endlich los. Bernd hat sich inzwischen ganz still und leise von mir verabschiedet, ohne dass ich etwas bemerkt habe. Zunächst durchqueren wir Cee und laufen über einen ansteigenden Hohlweg aus der Stadt heraus. Viel zu sehen gibt es unterwegs nicht, da der Nebelvorhang zu dicht ist. Lediglich das Rauschen des Atlantiks ist hin und wieder zu vernehmen. Kurz darauf haben wir einmal freien Blick auf eine kleine, sandige Bucht und es dauert nicht mehr lange, bis wir selbst an einen Strand gelangen. Dort kehren wir im Restaurante Playa da Serra ein und machen eine kurze Pause. Irgendwie scheinen wir jedoch zu stören. Einen Kaffee bekommen wir zwar, aber nichts zu essen. Sind das schon die Auswirkungen auf nervige Touristenströme? Das ist uns egal, wir ziehen ein-fach weiter. Bisher sind wir immer freundlich behandelt worden. Die Menschen grüßen auf der Straße zurück und sind sehr hilfsbereit. Über einen mit unregelmäßigen Steinen gepflasterten Weg erreichen wir um die Mittagszeit Fisterra. Immer noch ist es grau. Wir wollen im Hotel Ancora einchecken, können unser Zimmer aber erst in zwei Stunden beziehen. So lassen wir unsere Rucksäcke im Hotel und spazieren etwas durch die Stadt. Unterwegs treffen wir nacheinander Klara, Natalie und die Girls aus Halle. Am Hafen bleiben wir am Ticketverkauf für Bootstouren stehen, weil dort auch handbemalte Jakobsmuscheln verkauft werden. Das ist für mich die Gelegenheit, endlich mein Pilgerzeichen für dieses Jahr zu bekommen. „Mein“ Geschäft in Santiago hat ja leider geschlossen. Ich suche mir eine schöne Muschel aus und bin sehr froh darüber, hier in Fisterra meine Muschel gefunden zu haben. Das kann kein Zufall sein. Die nette Frau signiert mir die von ihr selbst bemalte Muschel mit ihrem Künstlernamen und der Jahreszahl: „Solete 2016“. Anschließend laufen wir noch ein wenig durch das Hafengelände und stören uns dabei an einem rücksichtslosen jungen Mann, der mit seinem stinkenden Motorrad rund um das Hafenbecken rast. Allmählich überkommt uns ein Hungergefühl und wir su-chen uns ein Restaurant. Es fällt uns schwer, eine Entscheidung zu treffen. Zu guter Letzt wählen wir das O Pirata, das etwas erhöht mit einem kleinen Außenbereich am Hafen liegt. Einen Tisch weiter sitzt eine Bedienung des Hauses und spricht uns in perfektem Deutsch an. Maria aus Freiburg lebt seit einigen Jahren in Fisterra und ist der Liebe wegen hiergeblieben. Sie empfiehlt uns die Plata Pirata für 2 Personen, die mit zwei Sorten Fisch, Calamaris und vier verschiedenen Sorten Muscheln bestückt ist. Im Gespräch mit ihr stellt sich heraus, dass sie nicht nur eine gute Bekannte von Manolo Link (den ich eigentlich in Fisterra zu treffen hoffte; aktuell weilt er aber in Deutschland) ist, sondern dass ihre Tochter sogar die Namensgeberin von seinem neuen Buch „Maria Melina“ ist. Soll das auch noch Zufall sein? Das Essen ist vorzüglich und wir sind total begeistert. Zum Abschluss testen wir noch ein paar Entenmuscheln, eine Spe-zialität der Region, die uns schon Fernando in Betanzos emp-fohlen hatte. Die Krönung ist der hausgemachte Schokoladenkuchen zum Dessert. Wir bedanken uns persön-lich bei Maria und verabschieden uns ganz herzlich von ihr. Natürlich musste noch ein Erinnerungsfoto gemacht werden. Inzwischen hat sich die Wolkendecke etwas gelöst und die Sonne und der blaue Himmel erfreuen unser Gemüt. Zufrieden beziehen wir unser Zimmer. Dieses ist recht beengt, sollte aber für eine Übernachtung ausreichen. Über den Betten ist ein Mückenschleier in Form eines Himmels angebracht und je ein aus Handtüchern geformter Schwan dient als nette Verzierung. Als nächstes besorgen wir uns in der öffentlichen Herberge die Pilgerurkunde Fisterrana und am nächsten Kiosk noch eine Flasche Rotwein. Gegen 18:00 Uhr machen wir uns allmählich auf den Weg zum Leuchtturm, in der Hoffnung, einen schönen Sonnenuntergang zu erleben. Unterwegs schauen wir uns die Iglesia de Santa Maria das Arenas an und bekommen dort noch einen Stempel. Neben der Straße gibt es zum Glück einen schmalen Fußweg, auf dem sich die Pilger fortbewegen können. Wir passieren einen Friedhof, der in dem Hang mit Blick auf das Meer eingerichtet ist, und später eine Bronzeplastik. Kurz vor dem Kap trennen sich Olli und ich. Er geht zum Parkplatz für Wohnmobile, von wo man einen schönen Ausblick auf das Gelände hat. Ich inspiziere derweil die beiden Andenkenstände und warte dann auf Olli. Inzwischen sind sehr viele Pilger, aber auch Touristen angeommen. Die Pilger lassen sich in den Klippen nieder und verbrennen Teile ihrer Ausrüstung, obwohl das laut einiger Hinweisschilder verboten ist. Leider gibt es außer einem Automaten im Leuchtturm keine Möglichkeit, etwas zu trinken, geschweige etwas zu essen zu bekommen. Da fällt mir spon-tan die eine oder andere Geschäftsidee ein. Wir platzieren uns auf der Terrasse des momentan geschlossenen Restaurants, leeren unsere Weinflasche und erwarten den Sonnenuntergang. Der lässt auch nicht mehr lange auf sich warten und wir bringen unsere Fotoapparate in die richtige Position. Dabei gelingt mir ein ganz besonders gutes Bild, als Olli auf der Mauer in der prallen Sonne steht. Nach dem Spektakel machen wir uns wieder langsam auf den Weg in Richtung Hotel. Inzwischen ist es stockdunkel. Die Hotelterrasse ist noch geöffnet und im Fernseher läuft gerade das Finale der Fußball-Europameisterschaft. Neben dem Tagesabschlussbier schafft es Olli, den Hotelier zu überreden, uns noch eine Kleinigkeit als Abendessen zuzubereiten. Nach der Zustimmung seiner Gattin macht diese sich in der Küche ans Werk. Kurz darauf verspeisen wir ein überdimensional großes Schnitzel mit Beilage und sind sowas von zufrieden. Dann überfällt uns doch die Müdigkeit als Folge des langen Tages und wir verziehen uns in unser Zimmer.
Wenn dein Herz angekommen ist, bist du auch bald da Montag, 11. Juli 2016: Von Fisterra nach Muxía Heute wird der letzte Tag sein, an dem wir eine Etappe auf unserem Camino laufen werden. Ab 7:30 Uhr soll es Frühstück geben, doch noch ist im Empfangsbereich des Hotels niemand zu sehen, alles ist noch dunkel und verschlossen. Erst eine gute Viertelstunde später trudeln die ersten Angestellten ein und beginnen mit den Vorbereitungen. Das ist wohl die spanische Mentalität, die mit unserer auf Pünktlichkeit ausgerichteten nicht zu vergleichen ist. Trotzdem genießen wir das Frühstücksbüffet, das im Laufe der Zeit mit noch mehr Leckereien angereichert wird. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit müssen wir vieles unversucht lassen und machen uns um 8:20 Uhr auf den Weg nach Muxía. Olli wirft im Zentrum von Fisterra noch ein paar Postkarten ein. Dann beginnt es wieder einmal leicht zu nieseln. Wir stellen uns kurz unter und ziehen die Schutzhauben über die Rucksäcke, folgen den Markierungen aus Fisterra heraus und verlaufen uns zum dritten Mal auf unserer Tour. Wir finden aber rasch auf den richtigen Weg zurück, müssen dazu aber eine ziemlich hoch gewachsene Wiese durchqueren, die zu-dem auch noch leicht feucht ist. Der Regen hat inzwischen auch schon wieder aufgehört. Wir gehen durch einige Dörfer und dann erwartet uns ein erster Anstieg. An einer Kreuzung verlaufen wir uns erneut, bemerken die falsche Richtung jedoch und haben im Ergebnis rund achthundert Meter Umweg gemacht. Hoffentlich geht das auf der letzten Etappe so nicht weiter. Wir müssen wieder aufmerksamer auf die Markierungen schauen. Kurz darauf begegnet uns in einem Waldstück Fuji mit flottem Schritt. Wir sind erfreut über das Treffen. Er ist zuerst nach Muxía gelaufen und hat nun Fisterra zum Ziel. Nach und nach kommen uns noch mehr Pilger entgegen, aber wir kennen niemanden von ihnen. Inzwischen beehrt uns wieder die Sonne samt blauem Himmel und vereinzelten Wölkchen. Hinter einer Biegung haben wir freien Blick auf den Ozean. Das Rauschen der Wellen ist trotz der deutlichen Entfernung zu vernehmen. Es wechseln sich nun schattige Waldwege mit einsamen Wirtschaftswegen ab. Wir überholen drei Pilger: zwei Engländer und einen Franzosen. Am Rucksack des Briten baumelt eine in den französischen Nationalfarben bemalte Jakobsmuschel, die er von seinem Mitpilger geschenkt bekommen hat. Das ist mal wieder ein schönes Beispiel für Völkerverständigung. Nach genau fünfzehn Kilometern erreichen wir Lires, wo wir in der Bar As Eiras den notwendigen Stempel des heutigen Tages erhalten. Zudem nutzen wir die Gelegenheit zum zweiten Frühstück; für mich gibt es ein Bocadillo con jamon und für Olli eine Tortilla. Ein kurzes Stück hinter Lires befindet sich eine neue Brücke über einen kleinen Fluss. Früher musste man hier über die links von uns im Wasser liegenden Granitblöcke waten. Es soll Pilger geben, die sich auch heute noch dieses Erlebnis nicht entgehen lassen möchten, jedoch sind zwei Steine verschoben und die Oberflächen scheinen glatt und rutschig zu sein. Auch wenn eine Abkühlung für die Füße verlockend wäre, belassen wir es lieber bei der bequemeren Methode, auf die andere Seite zu gelangen. Die Landschaft wird jetzt zunehmend grüner, links und rechts befinden sich Ackerflächen für Mais oder Kohl. Es folgt ein weiterer intensiver Anstieg, der uns innerhalb von rund acht Kilometern mit einem Höhenunterschied von 300 Metern beglückt. Danach erfolgt der Abstieg über einen ausgewaschenen, zerfurchten Weg mit groben, weit auseinander liegenden Steinen. Olli läuft schon die ganze Zeit fröhlich pfeifend hinter mir. Seine gute Laune ist ansteckend. In einer kleinen Siedlung laufen wir an einer gelben Mülltonne vorbei, an deren Seitenfront ein toller Spruch auf Deutsch prangt, der uns beiden so gut gefällt, dass wir ihn spontan zum Motto des heutigen Tages wählen: „Wenn dein Herz angekommen ist, bist du auch bald da.“ Irgendwie passt der Satz sehr gut zu der Geschichte vom Schmied. Schließlich erblicken wir wieder das Meer und laufen an ei-ner Straße entlang nach Muxía, an der Costa da morte gelegen, hinein. 2002 verunglückte hier ein Tanker und verschmutzte große Teile des Küstenstreifens. Heute ist davon zum Glück nichts mehr zu sehen. Gegen 15:15 Uhr sind wir in der öffentlichen Herberge und erhalten zwei Betten. Der Hospitalero stellt uns auch direkt die Pilgerurkunde Muxíana aus. Jetzt haben wir drei davon! Wir inspizieren den Schlafsaal im oberen Stockwerk und belegen zwei freie Betten. Nach den üblichen Pflegemaßnahmen von Personal und Material wollen wir der Wallfahrtskirche Santuario de Nosa Señora da Barca oder auch Virxen de Barca am anderen Ende von Muxía einen Besuch abstatten. Am 25. Dezember 2013 hat die Kirche nach einem Blitzeinschlag und einem verheerenden Brand große Schäden davongetragen. Man kann zwar in die Kirche hineinschauen, aber der Zutritt wird einem durch ein Gitter verwehrt. Ich bin sehr traurig, als ich mir den Chor anschaue und dabei feststelle, dass der ganze prächtige Hochaltar aus dem Jahr 1717, den ich selbst nur von Bildern her kenne, anscheinend völlig zerstört wurde. Vor mir sehe ich nur eine sterile helle Wand mit dem Gnadenbild in luftiger Höhe. In Muxía gibt es massive Proteste gegen diese Restaurierung im Ikea-Stil. Hoffentlich finden die Klagen Gehör… Wenn man oberhalb der Kirche auf den Felsblöcken sitzt, wirkt diese tatsächlich wie ein ruhender Fels in der Brandung. Der Atlantik kracht unter lautem Getöse an die bizarren, im Laufe der Zeit rund gespülten, Felsformationen und hinterlässt nur weiße Gischt. Es ist ein faszinierendes Schauspiel. Wir lassen die Natur eine Weile auf uns einwirken, sitzen auf Felsblöcken und starren auf die unendliche Weite des Meeres. Auf dem Rückweg gehen Olli und ich getrennte Wege. Olli möchte sich gerne ein wenig am Hafen umschauen, ich hingegen habe die oberhalb der Straße liegende Igrexa Santa María mit ihrem etwas noch höher stehenden Glockenturm im Visier. Die Kirche wurde zwischen dem XIII. und XIV. Jahrhundert erbaut und ist, oh Wunder, leider verschlossen. Ich gehe über die schmalen Treppenstufen des offenen Glockenturms, um noch weiter in die Höhe zu gelangen. Von hier habe ich einen tollen Ausblick auf Muxía. Der kleine Abstecher hat sich gelohnt. Am Hafen treffe ich mich wieder mit Olli. Wir fackeln heute gar nicht lange rum, nehmen direkt im ersten Restaurant Platz und bestellen ein Pilgermenü. An den Nebentisch haben sich drei deutsche Pilger gesetzt, mit denen wir eine lose Unterhaltung führen. Als wir mit dem Essen fertig sind, bitten wir sie zu uns an den Tisch und lernen Carola, Gabi und Thomas aus Köln kennen. Sie sind von A Coruna aus kommend den Küstenweg bis nach Muxía gelaufen. Es wird schon etwas dämmrig, als wir zurück zur Herberge schlendern. Auf dem Weg kaufen wir etwas zu trinken und setzen uns auf die großzügige Dachterrasse. Während Olli bereits ins Bett geht, bleibe ich noch etwas und schreibe den Tagesbericht in mein Notizbuch. Das Verbleiben wird belohnt: direkt vor mir versinkt die Sonne allmählich im Meer - ein beeindruckendes Erlebnis. Als letzter verlasse ich die Terrasse und begebe mich in den Schlafsaal. Morgen früh müssen wir rechtzeitig aufstehen, denn der Bus nach Santiago fährt bereits um 6:45 Uhr ab.
In der Stadt des Lächelns Dienstag, 12. Juli 2016: Santiago de Compostela Ich frage mich wirklich, warum ich schon um 5:30 Uhr wach bin. Sagt mir meine innere Uhr tatsächlich, dass ich früh aufstehen muss, um den Bus von Muxía nach Santiago zu erreichen? Wer weiß es? Tatsache ist, dass Olli und ich unsere Schlaf- und Rucksäcke, wie immer, rücksichtsvoll gegenüber den noch schlafenden Pilgern ergreifen und einen Stock tiefer erst richtig verpacken. Es gibt da ganz andere Zeitgenossen, die gerne noch den Schlafenden mitteilen möchten, dass sie in absehbarer Zeit die Herberge verlassen werden. Von der Unterkunft sind es nur ein paar Minuten bergab bis zur Bar O Xardin, vor der die Busse nach Santiago abfahren. Bis zur Abfahrt bleibt genügend Zeit, in der bereits geöffneten Bar ein Frühstück zu sich zu nehmen. Allmählich füllt sich der Gastraum mit bekannten und unbekannten Gesichtern. Der Bus fährt tatsächlich fast pünktlich ab, nachdem wir um jeweils acht Euro für die Fahrt erleichtert wurden. Für eine Dauer von fast 90 Minuten ist das an den heimischen Tarifen gemessen sehr preiswert. Von der Stazione autobus in Santiago laufen wir mit geschultertem Rucksack zunächst zum Seminario Menor, in dem wir bereits die erste Nacht unserer Reise verbracht hatten. Wir haben Glück und dürfen tatsächlich schon unsere Einzel-zimmer beziehen, obwohl dies erst offiziell ab 13:30 Uhr möglich ist. Danach drehen wir eine Runde durch die noch leblose Stadt und lassen uns in einer Bar zur Pause nieder. Wir treffen in einem Souvenir-Shop Klaus aus Stuttgart und sagen „Lebe wohl“, da er heute abreisen wird. Gegen Mittag will Olli noch einmal in die Herberge zurück, während ich in der Stadt bleibe. Ich habe auch schon einen Plan und werde noch einmal die Pilgermesse um 12:00 Uhr besuchen. Heute begebe ich mich in die Nähe des Nordportals. Natürlich sind die Sitzbänke schon alle belegt, aber auf den Stufen am Portal gibt es noch eine kleine Lücke für mich. Und wiederum bleibt mir das Glück treu, denn der Botafumero wird erneut in Bewegung gesetzt. Nach der Messe schlendere ich durch die Gassen, sehe Karla aus Bonn, und zu meiner Freude unsere Vermieterin aus dem Vorjahr. Sie scheint bester Gesundheit zu sein und sucht immer noch auf der Praza de Obradoiro nach Mietern für ihre Zimmer. Den anschließenden Besuch der Markthalle verbinde ich mit einer kleinen Portion Pulpo, den besten, den es in Santiago gibt! Danach finde ich noch ein paar Souvenirs und besorge mir zwei Dosen Estrella. Die nächsten zwei Stunden sitze ich an einer Säule des Pazo de Raxoi mit Blickrichtung zur Kathedrale und beobachte die Menschen, die gerade ihre Pilger-reise beenden. Dabei bin ich ziemlich tiefenentspannt. Ich spüre, dass ich die ganze Zeit ein Lächeln im Gesicht habe. Genauso wie die ankommenden Pilger! Es ist eine Freude zu sehen, wie die unterschiedlichsten Typen mit ihrem Ankom-men umgehen. Die einen lassen sich auf die Steinplatten vor der Kathedrale fallen, andere liegen sich in den Armen und wiederum andere erreichen singend den Platz. Kurz vor 18:00 Uhr erscheint Olli, wie vereinbart, auf dem Platz und setzt sich zu mir. Wir werden heute Abend nicht mehr allzu viel machen und suchen uns ein Plätzchen im Außenbereich des Café Albaroque in der Via Sacra, wo sich gerade eine Band für ihren Auftritt vorbereitet. Es wird ein schöner Abend mit inspirierender, keltischer Musik und einem netten Gespräch mit unseren Tischnachbarn aus der Schweiz.
Kleiner Pilgerweg der Barmherzigkeit Mittwoch, 13. Juli 2016: Santiago de Compostela Der heutige Tag beginnt richtig faul. Olli und ich wollen uns erst um 10:00 Uhr vor der Herberge treffen, da vorher in der Stadt noch nicht viel los ist. Die Zeit nutze ich zum Ausschlafen und zur Vorbereitung der Abreise. Zur verabredeten Zeit gehen wir gemeinsam zum Markt. Auf dem Weg dorthin schauen wir uns die Augustinerkirche an, anschließend schlendern wir durch die Markthallen und sind über die Vielfalt der angebotenen Waren erstaunt. Fast verbummeln wir die Zeit, denn wir wollen eigentlich am Pilgergottesdienst teilnehmen. Bevor wir die Kathedrale erreichen, werfen wir noch einen kurzen Blick in die Igexa de San Paio hinein und werden von der Schönheit der Ausstattung überwältigt. Die Kathedrale ist schon gut gefüllt. Uns bleibt nichts anderes übrig, als eine komplette Runde durch das Gotteshaus zu machen, um schließlich auf den Stufen des Nordportals Platz zu finden. Der Gottesdienst ist heute irgendwie anders als in den letzten Tagen. Zunächst beginnt die Messe mit einem Chor, dann bringen unheimlich viele Touristen durch ihr Umherlaufen sehr viel Unruhe mit sich. Dafür folgt nun eine sehr emotionale Geste, bei der es auf einmal ganz leise wird. Jedem scheint klar zu sein, dass etwas Besonderes geschieht. Pilger aus Russland und der Ukraine beten gemeinsam für Frieden in ihren Ländern. Sie bringen dies durch eine Umarmung und den Austausch ihrer Flaggen zum Ausdruck. Die Flaggen finden für den Rest des Gottesdienstes ihren Platz auf dem Altar. Friede in der Welt könnte so einfach sein. Als Krönung des Ganzen, als eine Art Siegel, wird auch noch der Botafumeiro ge-schwenkt. Nach dem Gottesdienst lautet unser Plan für die Mittagsmahlzeit: zurück zum Markt und Pulpo essen. Die Zubereitung der jeweiligen Portionen kommt einer Vorführung gleich. Die Schlange ist wieder einmal sehr lang und es dauert, bis wir auch eine Portion in der Hand halten. Wir lassen uns direkt nebenan auf einem Mauervorsprung nieder und genießen das Essen. Danach trennen wir uns noch einmal, so wie gestern, für ein paar Stunden, die jeder für sich nutzen kann. Das ist für uns beide völlig in Ordnung. Wir sind jetzt fast zwei Wochen unterwegs, da braucht jeder auch mal seinen Freiraum, um eigenen Interessen nachzugehen. Ich setze mich zuerst vor die Kathedrale und beobachte an-kommende Pilger. Um 16:00 Uhr besuche ich die Igrexa San Martín Pinero, die heute als Museum genutzt wird. Nach der Kathedrale ist das für mich die schönste Kirche in Santiago. Allein der Hochaltar und das dahinter für das gemeine Volk versteckte, wertvolle Chorgestühl ist der Hammer. Ich habe selten so eine künstlerische Arbeit gesehen. Nach diesem kul-turellen Teil mache ich gleich weiter damit. Am Nordportal spielt ein Gitarrist, der musikalisch als Double von Mark Knopfler (ehemaliger Dire Straits-Frontmann) durchgehen könnte. Ich höre ihm fast zwei Stunden zu und beobachte wieder vorbeiziehende Menschen. Um 19:00 Uhr wollen Olli und ich am spirituellen Rundgang um die Kathedrale - veranstaltet von der deutschen Pilgerseelsorge - teilnehmen. Wir sind nur zu fünft. Außer uns beiden sind noch ein Pilger sowie Doro und Andi aus München dabei, die Olli in einem Café kennengelernt hat. Er hat ihnen so von unserem Vorhaben vorgeschwärmt, dass sie sich nicht verweigern konnten. Sie sind wirklich eine Bereicherung für unsere Minigruppe und wir verstehen uns sofort sehr gut miteinander. Andi erzählt ein bisschen über seinen Jakobsweg, den er vor ein paar Jahren gegangen ist. Danach hat sich in seinem Leben einiges verändert. In diesem Jahr zeigt er seiner Frau auf einer Urlaubsreise einige Abschnitte des Camino Frances. Der Rundgang mit Hildegard ist sehr interessant und uns werden Symbole der Kathedrale vorgestellt, die in Bezug zum Jakobsweg stehen. Unmittelbar danach schließt sich ein kleiner Pilgerweg der Barmherzigkeit mit Petra an, inklusive Gang durch die heilige Pforte, kurzer Statio an der Grabstätte des Jakobus sowie weiteren Impulsen in einer Seitenkapelle. Zum Abschluss bekommt jeder vom uns begleitenden Pfarrer Wolfgang einen persönlichen Segen mit auf den Weg. Dieser kleine Pilgerweg trifft bei uns vieren genau ins Herz und läßt wieder einmal die Tränen kullern. Es ist ein emotionaler Abschluss unserer diesjährigen Pilgerfahrt und wir sind froh, dass wir dabei sein durften. Daher geht ein ganz herzlicher Dank an dieser Stelle an das Team der deutschen Pilgerseel-sorge. Das Abendessen nehmen wir im Casa Manolo ein und machen uns bei eintretender Dunkelheit auf die Suche nach dem Pilgergeist, der uns nicht entkommen kann. In einer Nische der Kathedrale auf der Praza da Quintana de Mortos erscheint allmählich der Schatten einer Lampe, der auf der gegenüberliegenden Mauer die Form eines Menschen mit Pilgerstab annimmt. Hildegard hatte uns vorhin die Legende dazu erzählt: im dunklen Mittelalter existierten sowohl Frauen- als auch Männerklöster. Eine Nonne und ein Mönch verliebten sich ineinander und wollten als Pilger getarnt Santiago verlassen. Als Treffpunkt für die Flucht wurde die besagte Nische gewählt. Der Mönch war rechtzeitig da, die Nonne überlegte es sich anscheinend noch einmal anders. Und so wartet der Mönch heute immer noch dort…
Jakobus hat geholfen Donnerstag, 14. Juli 2016: Santiago de Compostela Abreisetage haben immer etwas Melancholisches an sich. Alle Tätigkeiten, die in den letzten Wochen zur Routine wur-den, führe ich an solchen Tagen zum letzten Mal aus. Ich versuche, aus dieser Situation auszubrechen und die letzten Stunden in Santiago mit Abwechslung und guten Erinnerungen zu gestalten. So stehe ich bereits früh auf, um meinen Rucksack reisefertig zu machen und im Keller der Herberge in einem Schließfach zu verstauen. Danach gehe ich gut gelaunt zur Kathedrale, um am deutschen Gottesdienst teilzunehmen. Neben Petra, Hildegard und Wolfgang von der Pilgerseelsorge sind noch circa zehn weitere Pilger anwesend. Der Gottesdienst lässt mich noch einmal die vergangenen vierzehn Tage im Zeitraffer erleben. Es war eine schöne Zeit mit tollen Begegnungen und Erlebnissen, die Olli und ich erleben durften. In seiner Begrüßung erzählt Wolfgang über den Heiligen des Tages, Kamillus von Lellis. Erst gestern habe ich durch einen Beitrag auf Facebook von Pater Norbert von den Freiburger Kamillianern über den heutigen Gedenktag ihres Ordensgründers erfahren. Das aufopferungsvolle Wirken des Kamillus passt so wunderbar zum Jahr der Barmherzigkeit. Nach dem Gottesdienst erhält jeder, der möchte, noch einen persönlichen Segen zum Abschied aus Santiago. Wie gerufen, kommt für mich die Einladung, gegen Bezahlung am Frühstück im St. Martín teilzunehmen. Wir haben ein sehr schönes Gespräch mit herzlicher Verabschiedung. Um 10:00 Uhr treffe ich mich mit Olli vor dem Nordportal der Kathedrale, von wo aus wir noch einmal zum Markt gehen, um ein paar Mitbringsel zu kaufen. Anschließend möchte ich mich von der Kathedrale verabschieden, während Olli bereits zur Herberge geht und dort auf mich wartet. Ich durchschreite noch einmal die heilige Pforte, berühre dabei die Kreuze auf beiden Seiten und begebe mich in die Krypta zum Jakobusgrab. Hier verbleibe ich eine Weile. Kurz bevor der Pilgergottesdienst beginnt, sehe ich zu, dass ich die Kathedrale verlasse, um nicht als störendes Element zu wirken. In der Herberge treffe ich Olli im Gemeinschaftsraum im Keller, wo wir eine Kleinigkeit essen. Dann wird es Zeit, zur Stazione autobus zu gehen. Bei mir kommt dabei etwas Wehmut auf, denn die Abreise ist nun unumgänglich. Einer Pilge-rin, der wir in Muxía begegnet sind, scheint es ähnlich zu gehen. Sie steht im Bus nur wenige Schritte von uns entfernt. Ihre Augen sind geschlossen und ihre Gesichtszüge zeigen ein friedliches Lächeln. Dann öffnet sie die Augen, die jetzt ganz feucht sind und schaut zu mir rüber. Wir verstehen uns, ohne ein Wort zu wechseln, denn mir geht es genauso. Auch ich habe feuchte Augen, bin traurig über die Abreise aus Santiago. Ich strahle aber auch vor Freude, weil ich bald wieder meine Lieben in den Arm nehmen kann. Nach der Ankunft am Flughafen laufen wir uns noch einmal kurz im Terminal über den Weg und grinsen uns erneut an. Olli und ich geben am Schalter unsere vorher gut verpackten Rucksäcke ab und schauen uns das ausgestellte Modell der Kathedrale an, bei dem man viele Details erkennt, die beim Original verborgen bleiben. Die Sicherheitskontrolle verläuft zügig, doch Olli vermisst danach seinen Personalausweis, den er mit seinen Sachen in die Schale zum Durchleuchten gelegt hatte. Nachfragen beim nicht ganz so willigen Sicherheitspersonal bleiben erfolglos und auch die Polizei kann nicht helfen, weil es deutliche sprachliche Hindernisse gibt. Zum Glück hat er auch seinen Reisepass dabei, mit dem er an Bord gehen kann. Kurz vor dem Abflug passiert doch noch das Unglaubliche: der Ausweis wird ins Flugzeug gebracht, und alles ist wieder gut. Danke, Jakobus! Wir landen pünktlich auf dem Hahn und werden von meiner Frau Susanne abgeholt. Jetzt heißt es, zurück in den Alltag zu finden, die Erfahrungen und Erlebnisse mit einzubringen, vielleicht auch mit einem anderen Blickwinkel durch das Leben zu gehen. Und wenn eines Tages der Ruf von Jakobus das Ohr erneut erreicht, wird Santiago bestimmt noch einmal das Ziel eines Weges sein... |