Caminho Português 2015
Datum | Strecke | Länge | Gesamtlänge | |
1. | 16.06.2015 | Porto - Lavra | 24 km | 24 km |
2. | 17.06.2015 | Lavra - Rates | 26 km | 50 km |
3. | 18.06.2015 | Rates - Portela de Tamel | 27 km | 77 km |
4. | 19.06.2015 | Portela de Tamel - Ponte de Lima | 25 km | 102 km |
5. | 20.06.2015 | Ponte de Lima - Rubiaes | 16 km | 118 km |
6. | 21.06.2015 | Rubiaes - O Porrinho | 37 km | 155 km |
7. | 22.06.2015 | O Porrinho - Cesantes | 18 km | 173 km |
8. | 23.06.2015 | Cesantes - Portela | 27 km | 200 km |
9. | 24.05.2015 | Portela - Padron | 30 km | 230 km |
10. | 25.06.2015 | Padron - Santiago de Compostela | 24 km | 254 km |
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Auf Erkundung im Weltkulturerbe Montag, 15. Juni 2015: Porto Lange habe ich mich auf diesen Tag gefreut. Auf den Tag, an dem ich zum ersten Mal nach Santiago starten darf. Und dieser Tag beginnt sehr früh, nämlich um 3.00 Uhr, mitten in der Nacht. Um 4.00 Uhr fährt vom Koblenzer Hauptbahnhof der Bus zum Flughafen Hahn. Meine Frau Susanne ist so lieb und bringt mich zu dieser unmöglichen Zeit mit dem Auto zum Bahnhof - ganz lieben Dank dafür. Der Bus fährt pünktlich ab. Ich habe mich in den hinteren Teil des Busses verdrückt und will meine Ruhe haben. Mit mir sind noch weitere fünf Passagiere an Bord. Die Fahrt zum Flughafen Hahn verläuft unspektakulär. Nachdem an den beiden einzigen weiteren Haltestellen in Emmelshausen und Kastellaun niemand mehr zusteigen möchte, erreichen wir zügig kurz nach 5 Uhr das Flughafengelände. Von der Bushaltestelle am noch leerstehenden Parkhaus sind es nur wenige Schritte bis zum Terminal. Die Abgabe meines in einer Schutzhülle verpackten Rucksackes am Check-In klappt ohne Probleme, nur bei der Sicherheitskontrolle sorgt der kleine Anspitzer von meinem Bleistift für Aufregung. Er darf nach intensiver Begutachtung aber trotzdem mitfliegen. Die Wartezeit vor dem Gate vertreibe ich mir mit einem belegten Baguette und einer Flasche Wasser. Dann wird mein Flug endlich aufgerufen und eine Mitarbeiterin des Flughafen macht eine Vorabkontrolle der Boarding-Karten. Da ich mir bereits bei der Buchung Platz 16C an den Notausstiegen mit mehr Beinfreiheit reserviert hatte, darf ich mich als einer von nur wenigen Passagieren in die Priority-Schlange einreihen. Daher bin ich beim Boarding ebenfalls schnell abgefertigt und einer der ersten auf seinem Platz in der Ryan Air-Maschine. Die Plätze an den Notausstiegen sind wohl nicht so beliebt, denn nur fünf von zwölf sind belegt. Gut, sie kosten 10 € zusätzlich, aber das war es mir wert. Nach einer kurzen Einweisung durch eine Flugbegleiterin heben wir um 6.52 Uhr ab und steigen der Sonne über der dichten Wolkendecke entgegen. Da ich immer noch sehr hungrig bin, gönne ich mir zwei Croissants mit Schinken und Käse sowie einen schwarzen Tee. Der Flug verläuft sehr ruhig und unspektakulär und nach ziemlich genau 2:10 Stunden landen wir auf dem Aeroporto Francisco Sá Carneiro in Porto. Zunächst prüfe ich, ob alle Geräte mit Uhrzeit auch die um eine Stunde zurückliegende Zeit anzeigen und stelle sie entsprechend ein. Am Luggage-Claim ist nichts los, unser Landung war wohl eine der ersten an diesem Tag. Für mich läuft es heute sehr gut - mein Rucksack erscheint als eins der ersten Gepäckstücke auf dem Band. Ich entferne die Schutzhülle und verpacke sie sorgfältig im unteren Staufach des Rucksackes und schnalle mir diesen erstmals auf den Rücken. Bevor ich mit der modernen Metro in die Stadt fahre, benötige ich ein Ticket. Nach meinen Informationen soll der Erwerb am Automaten nicht ganz so einfach sein. Doch auch diese Herausforderung löst sich in Form mittels kompetenter Hilfe eines Englisch sprechenden Mitarbeiters, der mich mit wenigen Handgriffen eine Chipkarte aus Pappe mit der entsprechenden Aufladung für einen ganzen Tag aus dem Gerät zaubern lässt. Auf dem Bahnsteig bin ich besonders erfreut über Hinweise für Gepäckschließfächer an meiner Zielstation Trinidade. Da ich erst um 14.00 Uhr das Zimmer beziehen kann, verstaue ich dort nach rund 25 Minuten Fahrt mit der Metro meinen Rucksack und mache mich auf den Weg in die Stadt. Vornehmlich möchte ich das für heute Nacht gebuchte Hotel Paulista finden und zudem habe ich einen Rundgang durch das historische Zentrum von Porto mit einigen Kirchenbesuchen geplant. Gemäß dem Stadtplan, den ich beim Verlassen des Flughafens in die Hand gedrückt bekam, bin ich auf dem richtigen Weg. Zunächst stehe ich vor der Igreja de Trinidade die ich mir anschaue. Auffällig ist der Hochaltar mit seinem treppenförmigen Aufbau. Unmittelbar dahinter befinden sich das prächtige Gebäude der Câmara Municipial do Porto und nur einige weitere Schritte weiter unser Hotel. Ich marschiere weiter und gelange auf einer Anhöhe zur wunderschönen Igreja dos Clericos. Dort besteige ich den 70 m hohen Turm und habe nach 196 mehr oder weniger schmalen Treppenstufen einen lohnenswerten Ausblick auf Porto. Anschließend besuche ich die in der Nähe liegende Capela de São Jose dos Taipas, in der ich alleine bin und von sanfter Musik umgarnt werde. Ich setze meine Besichtigungstour der Kirchen von Porto fort streife durch schmale, mit Kopfsteinpflaster versehene Gässchen, bis ich zur Igreja dos Congregados gelange deren Front mit blau-weiß bemalten Kacheln verziert ist. Zu meiner Überraschung beginnt gerade ein Gottesdienst, an dem ich teilnehme. Das ist ein guter Start für die Pilgerreise nach Santiago. Nach dem Gottesdienst setze ich meinen Rundgang fort und passiere die ebenfalls mit Kacheln geschmückte Igreja do Santo Ildefonso, die leider nicht geöffnet ist. Als Höhepunkt habe ich mir Sé do Porto - die Kathedrale - gelassen und bekomme dort an der Information am Eingang den ersten Pilgerstempel. Zudem kaufe ich mir ein neues rotes Notizbuch mit dem Logo der Kathedrale, das ich ausschließlich für den Caminho Português nutzen werde. Das romanische Langhaus ist sehr dunkel gehalten, es gibt dort keine Fenster. Dafür wird es im weit entfernt wirkenden Chor umso heller - man „spürt“ den hier vorherrschenden barocken Stil. Nach einer intensiven Besichtigung verlasse ich das Gotteshaus und entdecke an einem Mäu-erchen am Vorplatz die ersten bunten Pfeile: gelb nach Santiago, blau nach Fátima. Diese werden in den kommenden Tagen unsere ständigen Begleiter und Wegweiser sein. Ich schlendere weiter durch Porto und treffe auf die historische Tram, die Eléctrico. Zum Abschluss überquere ich den Douro mittels der berühmten, 1886 erbauten Stahlbrücke Ponte de Luis I. Der Ausblick von der Brücke hinab und auf die Stadt ist er-greifend und wunderschön. Hier dürfen sich nur Fußgänger und die Metro bewegen, Autos fahren tief unten knapp über der Flussoberfläche. Auf der anderen Seite der Brücke unterhält ein älterer Herr die Passanten mit seinem Gesang, wird allerdings nicht sonderlich wahrgenommen, da sich recht wenige Touristen hierher verirrt haben. Einen noch besseren Blick habe ich von der noch höher gelegenen Plattform an der am heutigen Tage geschlossenen Rundkirche des ehemaligen Mosteiro da Serra do Pilar. Die ehemalige Klosteranlage wurde 1832 zu einer Festung ausgebaut und seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer Kaserne umfunktioniert. Inzwischen ist die Zeit schon etwas vorgerückt und ich mache mich auf den Weg zurück zur Station Trinidade, um meinen Rucksack aus dem Schließfach zu befreien. Auf dem Weg dorthin kaufe ich in einem Supermarkt ein paar Flaschen Wasser für den morgigen Tag und eine Kleinigkeit zum Essen. Anschließend beziehe ich das Hotelzimmer und ruhe mich etwas aus. Das Zimmer ist klein, aber für 40 € soweit in Ordnung. Später fahre ich noch einmal zum Flughafen, wo Jörg mit einer Stunde Verspätung um 23:30 Uhr aus Frankfurt ankommt. Wir haben uns auf der Fahrt in die City einiges zu erzählen und freuen uns schon auf morgen, wenn das Abenteuer Caminho Português beginnt.
Am Atlantik entlang nach Lavra Dienstag, 16. Juni 2015: Von Porto nach Lavra (23 km) Jörg holt sich in der Kathedrale noch seinen ersten Pilgerstempel und dann marschieren wir durch schmale Gassen zum Douro, wo ein Erinnerungsphoto am Ufer mit der Ponte de Luis I. im Hintergrund gemacht wird. Wir laufen weiter am Ufer entlang und wenden uns dann in Richtung Igreja de São Francisco. Unterhalb der Kirche befindet sich die Station Infante der Linie 1 der Eléctrico. Wir haben beschlossen, die nächsten 4,6 km bis zur Endstation Passeio Alegre in Foz de Douro zu fahren. Die holprige, aber sehenswerte Fahrt kostet nur 2,50 € und hat sich wirklich gelohnt. Nach einer guten halben Stunde steigen wir nahe der Mündung des Douro in den Atlantik aus - allerdings mit kurzer Unterbrechung, weil ein Auto auf den Schienen parkt. Die robuste Tramfahrerin lässt daraufhin die schrille Signalschelle ertönen und sorgt nach einigen Minuten für freie Fahrt. Wir laufen auf einer Kaimauer zwischen einer Palmenallee und einem einsamen Strand und folgen der sich nach Norden orientierenden Straße. Hier passieren wir das Forte São João Baptista de Foz aus dem 16. Jahrhundert, das zum Schutz der Küstenregion und der Douro-Mündung diente. Nun pilgern wir vornehmlich auf breiten Promenaden parallel zum Ozean und seinen einladenden, breiten aber kaum genutzten Stränden, die öfters mit schroffen Felsen durchzogen sind. Auf der anderen Straßenseite befinden sich große Wohnblocks, in denen in nicht unbedingt leben möchte. Wenig später kommen wir an einem weiteren Fort vorbei - dem Forte de São Francisco Xavier aus dem 16. Jahrhundert. Umgangssprachlich wird es auch Castelo do Queijo - Käseburg - genannt, da sein Aussehen an einen Käseleib erinnern soll. Ich brauche dafür allerdings sehr viel Phantasie. Kurz darauf erreichen wir den Südrand von Matosinhos und erhalten von den ein wenig Deutsch sprechenden Mitarbeitern der Tourist-Info einen Stempel und gute Informationen zum weiteren Wegverlauf. Wir würden jetzt gerne eine Pause machen und finden hinter der nächsten Ecke einen kleinen Park mit Ruhebank, in dessen Mitte sich das Monument Zimbório do Senhor do Padrão befindet. In unseren Pausen ziehen wir Wanderstiefel und Socken aus und lassen sie in der Sonne trocknen. Nachdem wir uns ein wenig erholt haben, geht es weiter - aber nur bis zur nächsten Straße. Dort befinden sich zahlreiche Fischrestaurants, und da wir gerade nichts Besseres zu haben, nehmen wir im erstbesten Platz und bestellen uns eine fangfrische Dorade, die auf einem Holzkohlengrill auf der Straße zubereitet wird. Der Haken an der Sache jedoch ist, dass der Fisch hier nach Gewicht berechnet wird, sodass das gute Mittagsmahl pro Kopf mit rund dreißig Euro zu Buche steht. Wieder haben wir etwas dazu gelernt! Nach der ausgedehnten Mittagspause laufen wir noch ein wenig quer durch den Ort, an einer Fischmanufaktur vorbei, über eine Klappbrücke am Hafen sowie eine langgezogene Straße, bis wir am Nordrand von Matosinhos wieder am Meer ankommen. Wir gehen wiederum über eine sehr breite Promenade, die rechts von Wohnsilos flankiert wird. Der helle Belag blendet in Verbindung mit der hoch stehenden Sonne, sodass die Sonnenbrille verpflichtend ist. Linker Hand hat man mitten in die Felsen ein großes Freibad gebaut - das hat sicher seinen Reiz, wird aber gerade nur von ganz wenigen Besuchern genutzt. Am Horizont kommt nähert sich der Farol da Boa Nova - ein Leuchtturm - und gegenüber klettern jugendliche Besucher auf dem Areal der Eremita de la Boa Nova - einer kleinen Einsiedelei - umher. Hier endet die Promenade und es beginnt ein schier endlos erscheinender Weg aus Holzbohlen. Darin eingelassen sind zwei farbige Elemente: in Grün wird die Entfernung bis zur nächsten Ortschaft angezeigt, in Gelb wird dem Jakobspilger in sechs verschiedenen Sprachen „ein guter Weg“ ge-wünscht. Wir lassen jetzt die Zivilisation hinter uns und gehen erstaunlicherweise sehr gut auf den Holzplanken. Rund um uns gibt es nur noch Natur pur - bis wir, glück-licherweise in einem großzügigem Abstand, an einer Chemiefabrik vorbeigehen. An einem Obelisken machen wir unsere nächste Pause und verzehren die gekauften Äpfel und nehmen ein ordentlichen Schluck aus der Wasserflasche. Nun sind es nur noch zwei Kilometer bis zum Campingplatz in Angeiras, wo gegen 16.00 Uhr eintreffen. An der Rezeption werden wir von Hospitalero Rainer auf Deutsch begrüßt, ohne, dass wir ein Wort gesagt haben. Die Abwicklung der Formalitäten erfolgt rasch und unkompliziert. Während dessen gibt uns Rainer einige gute Tipps für die kommenden Tage. Außer uns soll noch ein weiterer Pilger auf dem Platz sein, ein Niederländer. Mit dem uns zugewiesenen Mobilheim mit der Nummer 511 sind wir sehr zufrieden. Es ist spärlich eingerichtet: in Doppelbett in der einen „Kajüte“, ein Einzelbett im Vorraum sowie ein Kühlschrank. Ich richte mich in dem größeren Raum ein, Jörg in dem kleineren. Anschließend kümmern wir uns um unsere Wäsche, die wir auf einen Trockner vor das Mobilheim hängen. Ein großes Vergnügen bereitet uns danach das zum Campingplatz gehörende Schwimmbad, dessen einzige Gäste wir nun sind. Ich brauche jedoch eine Weile, bis ich mich an die kühle Wassertemperatur gewöhnt habe. Unser Abendessen nehmen wir im Restaurant neben dem Schwimmbad in Form eines Pilgermenüs ein, das wir beim Check-In gebucht haben. Dort treffen wir Rainer, der uns anbietet, bei ihm Platz zu nehmen. Rainer ist jedes Jahr für vier Wochen hier und kümmert sich rührend um die Pilger. Es wird ein netter Abend, den wir gemeinsam mit Rainer verbringen und dabei nette Gespräche über den Jakobsweg und über eine weitere Gemeinsamkeit, die Bundeswehr, führen. Im Übrigen, es gab einen schmackhaften portugiesischen Fischtopf. Gegen 22.30 Uhr begeben wir uns in unser Mobilheim und bereiten uns bei einer kühlen Dose Super Bock (= portugiesisches Bier) auf die folgende Etappe vor.
Kopfsteinpflaster-Rennbahn nach Rates Mittwoch, 17. Juni 2015: Von Lavra nach Rates (26 km) Ich bin schon sehr früh wach heute - deutlich vor der eingestellten Zeit des Weckers - und drehe eine Runde auf dem Campingplatz. Es ist erst 6.30 Uhr, als ich unser Mobilheim verlasse und mir genussvoll den Sonnenaufgang anschaue. Nach einem kleinen Spaziergang auf dem Gelände kehre ich zurück und stelle fest, dass Jörg auch schon wach ist. Also beschließen wir, uns fertig zu machen und loszulaufen. Während wir mit dem Verpacken der Ausrüstung beschäftigt sind, sehen wir einen älteren Herrn mit Rucksack an uns vorbeilaufen, ohne dass er uns bemerkt. Wir vermuten mal, dass er der Niederländer sein muss, von dem Rainer gestern sprach. Wir verstauen zum Schluss noch unsere Schlafsäcke, die wir ein wenig auf dem Wäscheständer gelüftet haben und überprüfen noch einmal unsere Unterkunft auf vergessene Sachen. Ziemlich genau um 7.30 Uhr tauscht Jörg am Eingang des Campingplatzes den Schlüssel gegen seinen Pilgerausweis, den er gestern als Pfand hinterlegen musste. Wir verzichten auf ein Frühstück in der nahe gelegenen Bäckerei und laufen stattdessen auf das Meer zu. Zunächst geht es wieder über Holzpfade parallel zum Strand entlang. Hier wird es an einer kleinen Bucht laut, denn dort hat sich eine größere Möwenkolonie niedergelassen und beobachtet uns aus sicherer Entfernung. An Ende eines Parkplatzes sollen wir gemäß der Markierung rechts einer Straße folgen. Unser Führer hingegen schlägt vor, über einen Schotterweg, der zu einem Sandweg wird und dann über einen verwilderten Pfad zu gehen. Da sich vor uns stattdessen aber ein sehr neu aussehender Holzweg befindet, entscheiden wir spontan, auf diesem zu verbleiben. Wir laufen an ein paar Arbeitern in der Frühstückspause vorbei und ernten verständnislose Blicke. Warum, erfahren wir nach wenigen hundert Metern: vor uns enden die Holzplanken und es ist auf weitere Sicht nur noch das Gerippe der Unterkonstruktion zu sehen. Da hätten wir auch früher drauf kommen können, denn zuletzt fehlte das komplette Holzgeländer zu beiden Seiten des Steges. Eigentlich sah das nach Baustelle aus. Ohne langes Überlegen entscheiden wir uns für die Fortsetzung auf diesem „Weg“, den wir halt auf schmalen Stämmen oder einfach nur daneben gut überwinden. Wir erreichen ein Areal namens São Paio, auf dem eine prähistorische Siedlung ausgegraben wurde, von der wir allerdings nicht viel sehen. Auf dem höchsten Punkt mit schöner Aussicht steht eine Kapelle, deren Front mit Kacheln verziert ist und deren Türsturz die Jahreszahl 1885 trägt. Als nächstes kommen wir in das Fischerdorf Vila Chá, wo gerade der Fang der letzten Stunden verarbeitet wird und sich einige Fischer mit dem Flicken der Netze beschäftigen. Mit dem nächsten Stück Weg haben wir unsere Probleme. Wir finden zwar in Vila Chá den richtigen Abzweig nach links, verstehen danach nicht so richtig die Beschreibung im Buch und landen auf einer mit Eukalyptusbäumen gesäumten Kopfsteinpflasterstraße. Und hier wird es gefährlich für uns. Die Straße ist zwar breit und wir laufen am äußersten Rand, aber die Portugiesen rasen hier inner- und außerorts, als wenn der Teufel hinter ihnen her wäre. Glücklicherweise können wir bald wieder auf einen Fußweg in einer Wohnstraße ausweichen. Das Ende der langgezogenen Straße wird durch einen Kreisverkehr mar-kiert, und hier in Araia befindet sich auf der linken Seite das Restaurant Cerqueira. Wir können und wollen nicht widerstehen: hier machen wir Frühstückspause, es ist ja auch schon 10.00 Uhr. Wir schaffen es irgendwie, dem älteren Herrn verständlich zu machen, dass wir gerne ein Omelette mit Käse und Schinken haben möchten, und dazu noch einen Café con leche. Eigentlich trinke ich ja gar keinen Kaffee, aber als Pilger muss an sich anpassen. Café con leche ist halt das Standardgetränk der Pilger am Morgen. Während unser Frühstück frisch zubereitet wird, entledigen wir uns der Wanderstiefel samt Socken und legen alles zum Trocknen in die Sonne. Der ältere Herr öffnet uns noch einen Sonnenschirm und lässt den mit Jakobsmuscheln verzehrten Brunnen sprudeln. Wir haben den Eindruck, er möchte, dass wir uns rundherum wohlfühlen. Und das gelingt ihm auch, vor allem mit dem Omelette. Beim Bezahlen ist der Pilgerstempel inklusive. Nach einer guten halben Stunde sind wir wieder mit Sack und Pack unterwegs. In Azuara möchten wir uns gerne die Kirche anschauen. Die ist aber verschlossen, also geht es nach einer Umrundung einfach weiter. Auf den Straßenlaternen begegnen uns immer wieder blaue Aufkleber von zwei rührigen Facebook-Seiten: Caminho Portugues und das undogmatische Pilgerforum. In Vila do Conde werden wir von dem hochgelegenen Kloster Santa Clara begrüßt, das monumentale Ausmaße hat. In der Tourist-Info, etwas abseits vom Weg am Hafen gelegen, holen wir uns den Pilgerstempel ab, In der Folge haben wir es mit einem weiteren Abschnitte der Kopfsteinpflaster-Autobahn zu tun - und die wird hier immer schmaler. In einer Bar füllen wir unsere Wasservorräte auf und finden kurz vor Junqueira ein schattiges Plätzchen für die nächste halbstündige Pause. Das tut den von Stiefel und Socken befreiten Füßen richtig gut. Im Ort ist die kleine Dorfkapelle von 1713 geöffnet, einiges weiter die Klosterkirche allerdings leider erst ab 14.00 Uhr. Da wir ja gerade erst pausiert haben, wollen wir jetzt nicht schon wieder eine Viertelstunde warten. Rechts über dem Portal schaut jedoch Jakobus auf uns herab, hier dargestellt mit der Muschel am Hut und dem Evangelium im Arm. Einige Einheimische weisen uns immer wieder den rechten Weg und sind sehr hilfsbereit. Allmählich neigt sich die Etappe dem Ende zu. Wir überqueren die Ponte de Arcos, gehen durch den Ort und erreichen schon bald die ersten Häuser von Rates. Hier überholen wir einen Spanier aus der Region von Malaga, der von uns aufgrund seines Bierkonsums später den Spitznamen Señor Cerveza erhalten wird. Außerdem treffen wir wenig später Alexandra, eine junge Polin. Mitten im Ort befindet sich die Albergue de Peregrinos de São Pedro de Rates, an der wir gegen 15.30 Uhr eintreffen. Dort sind schon einige andere Pilger mit ihrer Ausrüstung beschäftigt. und teilen uns mit, dass Maria, die Hospitalera, erst um 17 Uhr da sein wird. Das heißt für uns, 2:30 Stunden warten. Wir nutzen diese Zeit, in einem Schlafsaal für 13 Personen ein Bett auszuwählen, zu duschen und zu waschen. Dazwischen spreche ich ein wenig mit Joan aus Massachusetts/USA sowie Jan, "unserem" Niederländer vom Campingplatz. Wir unterhalten uns auf Englisch, bis er mich nach meiner Herkunft fragt. Nachdem ich ihm voller Stolz „Germany“ entgegen schmettere, erklärt er mir gut verständlich, dass wir uns dann ja auch auf Deutsch unterhalten könnten. Auch ein kühles Bier, eine Cola und ein Tropfen Portwein aus dem benachbarten Laden hilft weiter, die aktuellen Temperaturen um die 30 Grad zu ertragen. Unsere Füße tauchen wir abwechselnd in einen Eimer mit kaltem Wasser. Inzwischen sind noch 3 Belgier, 4 Spanier, 5 Polen, 5 Deutsche, 2 Italiener und 2 Ungarn angekommen. Bis zum Eintreffen von Maria dauert es noch etwas, daher machen Jörg und ich noch einen Spaziergang durch Rates und schauen uns die romanische Igreja São Pedro aus dem 12. Jahrhundert an. Nach unserer Rückkehr können wir uns registrieren lassen und erhalten einen zweifarbigen Stempel in unser Credencial. Unser Abendessen nehmen wir in einer Pizzeria in der Nähe der Kirche ein. Zurück in der Herberge richten wir unsere Ausrüstung für den morgigen Tag her und begeben uns dann zur Ruhe.
Umwege sind manchmal doch lohnend Donnerstag, 18. Juni 2015: Von Rates nach Portela de Tamel (27 km) Meine erste Nacht in einer Albergue war sehr unruhig. Jörg und ich haben uns gestern schon um kurz nach neun Uhr in unsere Betten begeben. Das ungarische Pärchen hatte noch lange nichts Besseres zu tun , als sich flüsternd zu unterhalten - aber mitbekommen habe ich das Gespräch und konnte zunächst nicht einschlafen. Als später auch noch die anderen ins Zimmer kamen, war ich noch immer wach. Irgendwann muss ich dann doch eingeschlafen sein, obwohl ein polnisches Sägewerk in der ganzen Nacht in Betrieb war. Das nächste, das ich wahrnehme, ist eine aufkommende Unruhe - es ist kurz vor sechs Uhr. Jörg und ich hatten vereinbart, dann auch aufzustehen, zu packen und loszugehen. Wir nehmen unsere vorbereiteten Bündel und machen uns im Flur vor den Schlafsälen fertig. Hier sind auch schon die Ungarn und ein paar Spanier bei ähnlichen Tätigkeiten zu sehen. Gute 30 Minuten benötigen wir, um unsere Sachen verpackt zu haben. Nur noch draußen auf der Treppe die Stiefel anziehen, dann können wir die heutige Etappe beginnen. Kurz vor zieht auch schon das polnische Sägewerk mit Begleiterin - beide in Sandalen - an uns vorbei, die wir aber bereits nach der zweiten Kurve mit einem fröhlichen „Bom Caminho“ hinter uns lassen. Ein Frühstück wollen wir erst später in einer Bar zu uns nehmen. So marschieren wir auf den bestens markierten Wegen - heute sind neben Kopfsteinpflaster auch mal normale Feldwege, meist umrandet von Mauern dabei. Von einer höher gelegenen Hausmauer grunzt uns sogar ein schwarzes Schwein an. Nach rund 7 Kilometern kehren wir in Antonios Bar in Pedra Furada ein und bestellen uns ein Bocadillo mit Käse und Tomaten sowie einen Café con Leche und eine Cola. Wir sind überwältigt, als es vor uns steht. Den Pilgerstempel gibt es noch gratis dazu. An der Wand hängen interessante Erinnerungsstücke vom Camino, die wir uns neugierig anschauen. Gestärkt verlassen wir die Bar gerade in dem Moment, als die Polen hereinkommen. Nach der Pause entscheiden wir uns für den Alternativweg unseres Pilgerführers, der uns ab Rua Nova statt geradeaus und in der prallen Sonne nach links führt. Der damit verbundene kleine Umweg einschließlich leichtem Anstieg durch einen schattigen Eukalyptuswald bringt uns auf eine Anhöhe mit der hübschen Igreja Santa da Franqueira. Dazu werden wir mit einem nicht minder schönen Ausblick bis an die Küste des Atlantik belohnt. Beim Abstieg haben wir zunächst Schwierigkeiten, den richtigen Weg zu finden und umrunden die Kirche mit ihrem vorgelagerten Platz einmal komplett. Schließlich nehmen wir den einzig möglichen Weg, der abwärts führt. Der ist richtig holprig und ausgewaschen, sodass wir aufpassen müssen wo wir hintreten. Der Weg wird ab dem ehemaligen Convento de Frades (heute eine nicht ganz so preiswerte Unterkunftsmöglichkeit) steiler und führt nach einer Weile über eine Autobahn bis nach Monte de Clima, wo beide Wegvarianten wieder zusammenkommen. Es geht nun rasch weiter in Richtung Barcelinhos. Dabei sind mir schon öfter Kanaldeckel auf dem Boden aufgefallen, die das markante Logo einer Manufaktur in Pont-à-Mousson an der Mosel (auf dem Jakobsweg von Trier nach Vézelay gelegen) tragen. Pilgern verbindet halt! In Barecelinhos holen wir uns in der Herberge der Bergfreunde einen Stempel ab und überqueren die Brücke über den Fluss Cavado nach Barcelos. Wir besichtigen dort kurz die Igreja Matriz und den Ruínas do Paço dos Condes de Barcelos, bevor wir weiter durch die belebte Stadt schlendern. Auch in Barcelos gibt es ein Hühnerwunder. Der Legende nach soll ein Bauer auf dem Weg nach Santiago einem Großgrundbesitzer Silber gestohlen haben und wurde vom Richter zum Tode durch Erhängen verurteilt. Als letzten Wunsch wollte der Bauer noch einmal mit dem Richter sprechen, der gerade dabei war, gebratenen Hahn zu verspeisen. Als Zeichen der Un-schuld solle der Hahn während der Hinrichtung vom Teller springen und krähen, sprach der Verurteilte. Und genauso geschah es und der Richter stoppte die Vollstreckung. Der bunte Hahn ist hier überall präsent und inzwischen zu einem nationalen Symbol geworden. In einer langgezogenen Straße sehen wir Jan, den Niederländer, vor uns in Richtung der Filiale eines amerikanischen Burgerladens gehen. Durch einen kurzen Stopp in einem Supermarkt, in dem wir unsere Wasservorräte auffüllen, verlieren wir ihn jedoch aus den Augen. Nachdem wir die letzten Ausläufer der Stadt hinter uns gelassen haben, machen wir endlich die schon lange geplante Pause: Rucksack absetzen, Schuhe aus, Socken aus, lang gemacht und auf einem Mäuerchen einer Kapelle entspannen. Währenddessen ziehen zwei Spanier und Jan an uns vorbei. Pünktlich nach 30 Minuten geht es weiter, und nur wenig später werden wir gerufen: Jan kommt aus einer Bar heraus, wo er sich erfrischt hat. Der 69-jährige aus den Südniederlanden hat eine Knieprothese und bleibt ein wenig zum Plaudern bei uns, lässt sich dann aber zurückfallen, da Jörg und ich doch einen ganz anderen Schritt haben. Das letzte Stück fordert uns noch einmal richtig, denn es geht langgezogen bergauf und die Temperaturen liegen bei 32 Grad. Schließlich erreichen wir erschöpft die Herberge Recoleta in Portela de Tamel und werden von der Vertreterin des Hospitaleros in Deutsch empfangen. Später kommt Carlos selbst noch dazu und übernimmt den Empfang. Beide sind sehr engagiert bei der Sache. Nach der Auswahl des Bettes folgt das übliche Ritual: duschen, waschen, erfrischen. Inzwischen füllt sich die Herberge. Neben einem Amerikaner und den beiden Spaniern von unterwegs, treffen allmählich Jan, weiterhin von gestern drei der Polen, die beiden Ungarn, Señor Cerveza und Joan, die Amerikanerin, ein. Es dauert noch etwas, bis das Restaurant gegenüber der Herberge öffnet. Hier soll es ein preiswertes Pilgermenü geben. Die Zeit bis dahin vertreiben wir uns bei kühlem Bier, das wir bei Carlos bekommen. In regelmäßigen Abständen erklingt aus den Lautsprechern der neben der Herberge befindlichen Capela Señora da Portela das Marienlied von Fatima. Hoffentlich bleiben die Lautsprecher zumindest in der Nacht stumm. Im Restaurant sind wir - Jörg, Jan und ich - die ersten Gäste und wir können uns die besten Plätze auf der Terrasse aussuchen. Etwas später kommt Joan noch herein und leistet uns Gesellschaft. Nach und nach werden auch die anderen Tische mit bekannten Gesichtern aus der Herberge besetzt. Für sieben Euro serviert uns der mindestens fünf Sprachen sprechende Kellner ein leckeres und reichhaltiges Menü, bestehend aus Steak, Reis, Pommes und Salat. Wir verbringen einen netten Abend mit interessanten Gesprächen. Joan ist sich nicht sicher, ob sie mit ihren blasenbedeckten Füßen noch weiterlaufen kann. Leider ist dieser Abend das letzte Mal, dass wir Joan sehen. Schade, denn wir hatten viel Spaß miteinander. Plötzlich herrscht Unruhe auf der Terrasse. Um den Tisch von zwei italienischen Pilgerinnen scharen sich die Kellner. Einer der Damen ist wohl nicht gut und sie muss sich auf den Boden legen. Da spielt wohl der Kreislauf nicht mehr richtig mit. Wir würden gerne auch helfen, aber es kümmern sich schon genügend Leute um sie. Es ist kurz vor 22 Uhr und wir auch die zweite Flasche Rotwein geleert. Da uns morgen wieder eine ähnlich lange Etappe wie heute erwartet, zahlen wir und werden per Handschlag vom Personal verabschiedet. Vor der Herberge sitzen fast alle Übernachtungsgäste noch vor der Tür und genießen die letzte Sonnenwärme. Wir setzen uns dazu und quatschen noch ein wenig mit den anderen. Carlos nimmt es aufgrund der noch hohen Temperatur mit der Schließung der Herberge nicht so eng und gibt noch gerne Getränke aus seinem Vorrat heraus. Unser polnisches Sägewerk gibt dabei einen Schwiegermutterwitz nach dem anderen zum Besten, und das in sehr gutem Deutsch. Auch seine mit Blasen überzogenen Füße nimmt er nicht so sehr dramatisch. Er will damit morgen in seinen Sandalen weiterlaufen.
Zu wenige Bars am Weg bedeuten halt Durst Freitag, 19. Juni 2015: Von Portela de Tamel nach Ponte de Lima (25 km) Auch heute stehen wir erneut früh auf, so wie die meisten in unserem Schlafsaal. Da jedoch noch einige in ihren Schlafsäcken schlummern, nehmen wir möglichst geräuschlos unsere Sachen in die Hand und begeben uns in den Aufenthaltsraum im Erdgeschoß. Hier ist schon rege Betriebsamkeit zugange. Fast alle Stühle und Tische sind mit irgendwelchen Gegenständen belegt, die nach und nach in Rucksäcken verschwinden. Auch Jörg und ich machen uns gemütlich fertig. Dazu gehört das sorgfältige Einschmieren der Füße mit Hirschtalg und das Auftragen von Sonnenschutz auf die unbedeckten Hautflächen. Um 6.30 Uhr sind wir endlich soweit, in den beginnenden Morgen zu pilgern. Das Frühstück verschieben wir auf später, wenn wir an einer Bar ankommen. Zunächst geht es abwärts durch entlang der Straße in das kleine Dorf Aborim, das sogar über einen Schienenhaltepunkt verfügt. Doch die Freude währt nicht lange, und wir haben wieder unser geliebtes Kopfsteinpflaster unter den Füssen. Dafür entschädigt die Landschaft in diesen frühen Morgenstunden. Typisch ist hier, dass die Wege oftmals von Mauern eingefasst sind, direkt dahinter verbergen sich Häuser, Gärten oder Felder. Hinter dem Dörfchen Giestal überqueren wir die mittelalterliche Ponte das Tábuas an einem stimmungsvollen Plätzchen, wollen uns aber trotz der Verlockung des kühlen Baches nicht aufhalten. Die Temperaturen steigen nämlich bereits merklich an. Wir laufen an romanischen Kapellen vorbei und passieren im weiteren Verlauf die bei Pilgern beliebte Unterkunft Casa Fernanda. Leider hat es nicht in unsere Etappenplanung gepasst, dort zu übernachten. Kurz dahinter befindet sich noch eine weitere Pension mit einem Wegweiser aus verrostetem Stahl, der aussieht, wie eine riesige Kaffeetasse, in die man überdimensionale Zahnstocher eingefüllt hat. Auf den Schildern werden die Entfernungen zum Sé do Porto mit 133 Kilometern und nach Santiago de Compostela mit 113 Kilometern angegeben. Wir haben also schon deutlich die Hälfte unseres Pilgerweges hinter uns gebracht. Vor uns tun sich nun große Flächen von Mais- und Weinanbau auf und im Hintergrund sind einige höhere Berge zu sehen. Gegen 9.30 Uhr haben wir circa 12 Kilometer zurückgelegt und laufen über die verschlossene Kirche in Vitorino dos Piaes in den ersten Ort mit einer Bar ein. Obwohl wir schon einiges aus der Wasserflasche getrunken haben, wollen wir im Restaurante Viana die Gelegenheit zum Nachfüllen und vor allem zum Frühstück nutzen. Wir entscheiden uns heute für ein Omelette, das wir bei der jungen und sehr freundlichen Bedienung bestellen. Während die Eierspeise noch in der Pfanne brutzelt, kümmern wir uns um unsere Füße, befreien sie von ihrer ledernen Hülle und lassen Socken, Einlagen und Schuhe in der Sonne trocknen. Einige uns bekannte Pilger sind übrigens auch schon da und nehmen ebenso wie wir ihre erste Mahlzeit des Tages ein oder trinken nur einen Kaffee. Nachdem wir uns gestärkt und eine gute halbe Stunde ausgeruht haben, machen wir uns wieder marschbereit. Auf dem Caminho genießen wir die grüne Landschaft mit ihren verborgenen Gerüchen und Geräuschen. Wir streifen durch unberührte Landschaft mit schattigen Eukalyptuswäldern und Wiesen mit bunten Blumen. Es geht zwar jetzt ein wenig auf und ab, aber das gehört halt dazu. Auf einem Feld ist bereits das Heu abgeerntet und zu Garben zusammen gebunden worden. Das sieht man bei uns heute gar nicht mehr. In der Nähe von Facha erreichen wir an einer Kreuzung eine Kapelle mit Vordach, daneben befindet sich ein Bildstock von 1840 mit einem Pilgermotiv auf bemalten Kacheln. Auf den Treppen der Kapelle sitzt eine polnische Pilgerin, die wir um ein Foto mit dem Bildstock bitten, schließlich wollen Jörg und ich ja auch auf dem ein oder anderen Foto zu sehen sein. Wir stoßen immer weiter in das Tal des Rio Lima hinein, während es immer wärmer wird. Die Quecksilbersäule eines Thermometers an einer Hauswand ist schon über die 30 Grad-Marke geklettert. Unsere Kehlen verlangen nach Flüssigkeit, doch ein wenig Geschmack wäre jetzt nicht schlecht. Wie bestellt taucht vor uns die Bar Lotus in Seara auf, wo wir jeweils zwei Dosen Cola verdampfen lassen und einen weiteren Stempel für den Pilgerausweis einsammeln. In einer schattigen Ecke mit Sonnenschirm trinkt das polnische Sägewerk Alex mit seiner Begleiterin gerade ein Bier. Er hat eine fürchterliche Blase am Fuß und läuft tapfer in seinen Sandalen weiter, Hut ab! Auch zwei Frauen aus Österreich und zwei Männer in meinem Alter erfrischen sich hier. Mit den beiden komme ich auf Englisch ins Gespräch, aber es stellt sich sehr schnell heraus, dass beide aus Köln kommen und wir in unserer Muttersprache wesentlich einfacher Informationen austauschen können. Zum Glück sind es jetzt nur wenige Kilometer bis nach Ponte de Lima. Die mittelalterliche Brücke mit ihren vielen Bögen ist schon von Weitem sichtbar und wirkt sehr imponierend. Zunächst laufen unter der modernen Autobrücke durch und an der Capela Sra da Guía vorbei. Das letzte Stück führt uns entlang einer Allee zur historischen Brücke. Hier werden wir aus versteckten Lautsprechern mit sanfter Musik des Weges begleitet. Die Pilgerherberge befindet sich auf der anderen Seite des Rio Lima, öffnet aber erst um 16 Uhr, da sie von Freiwilligen betrieben wird. Bis dahin sind es noch drei Stunden. Hier hilft das Geheimrezept des heutigen Tages: eine Bar, direkt neben der Herberge, mit prall gefülltem Kühlschrank, aus dem wir uns reichlich bedienen und unseren Durst löschen. Nach einiger Zeit verlasse ich den kühlen Gastraum und entdecke auf der anderen Seite Alex, Jan, Alexandra, die Ungarn und noch einige andere. Jörg und ich bezahlen, packen zusammen und stellen unsere Rucksäcke in die bereits größere Reihe vor der Herberge. Danach setzen wir uns zu den andere. Es wird eine lustige und feuchte Runde und die Zeit vergeht so etwas schneller. Wir erfahren nun einiges über unsere Mitpilger. Jan war in der Papierbranche tätig und in seinem Arbeitsleben in ganz Europa unterwegs. Alex ist katholischer Pfarrer, hat in St. Goar am Rhein - etwas südlich von meinem Wohnort Koblenz entfernt - Verwandtschaft und ist öfter in Deutschland als Vertretung in Pfarreien tätig. Seine Begleiterin musste gestern noch eine Klinik aufsuchen. Sie hat sich wohl schon in Porto irgendwelche unangenehme Insektenbisse zugezogen, die jetzt mit Antibiotika behandelt werden müssen. Pünktlich um 16 Uhr öffnet sich das Tor der Herberge und wir können uns registrieren lassen. Jörg und ich bekommen die letzten beiden Betten in dem mit rund zwanzig Betten etwas kleineren Schlafsaal unter dem Dach. Wir belegen die uns zugewiesenen, mit einer einem blauem Kunststoffüberzug versehenen Betten in der Nähe der Türe und machen anschließend einen Abstecher in den einen Stock tiefer gelegene Dusche. Danach ist die Wäsche dran. Am Hof befindet sich ein Raum mit mehreren Waschmöglichkeiten, die wir ausnutzen. Die nasse Wäsche können wir auf einer Wäschespinne und mehreren Trocknern aufhängen. Nach der Dusche und dem Waschen verabreden wir uns mit Jan zum Essen in dem Restaurant, das am Nachmittag unsere letzte Heimat war. Jan hatte dort ein etwas höherwertiges Pilgermenü zu einem guten Preis ausgehandelt. Vor dem Essen versuche ich für morgen eine Unterkunft zu reservieren. Wir möchten gerne bei den Kanadiern Lesley und Geof in Paços unterkommen. Leider erreiche ich über die mir bekannten Telefonnummern niemanden. Zum Glück fällt mir noch ein, dass uns Rainer auf dem Campingplatz in Lavra einen Tipp gegeben hat. So versuche ich es bei Ana in Rubiães und habe Erfolg: es ist noch ein Zimmer für uns frei. Da es morgen noch heißer werden soll als heute, kommt uns die etwas kürzere Etappe und die private Unterkunft mit etwas Luxus sehr entgegen, zumal es dort auch einen Pool gibt. Da Jörg sehr stark schwitzt, hat er heute ein paar kleine Probleme mit seinem Mineralienhaushalt gehabt. Damit so etwas nicht noch einmal vorkommt, versuchen wir in einer Apotheke etwas für ihn zu bekommen. Es gestaltet sich schwierig, dem Apotheker klar zu machen, was Jörg möchte. Das erinnert mich an eine Situation in Vigy/Frankreich, als Jörg ein Desinfizierungsmittel für seine Blasen wollte, was sich ebenfalls etwas schwieriger gestaltete. Heute bekommt er eine Packung mit kleinen Ampullen, die anscheinend genau das beinhalten, was Jörg benötigt. Das Abendessen ist gut und reichhaltig. Der Wirt hält sich an die Absprache vom Nachmittag: wir bekommen ein gutes Stück Fleisch mit Beilagen, Dessert und Wein für rund 16 Euro. Wir verbringen mit Jan einen sehr schönen Abend und lachen dabei unheimlich unaufhörlich. Jetzt, gegen 21.30 Uhr, kommt ein laues Lüftchen auf und vertreibt ein wenig die Wärme. Hoffentlich wirkt sich das auch in unserem Schlafsaal aus. Unter dem Dach steht die Luft nämlich und ich befürchte, dass wir trotz offener Fenster eine unruhige Nacht haben werden. Wir hängen noch die trockene Wäsche ab, verstauen diese im Rucksack und legen uns hin.
Man gönnt sich ja sonst nichts - heißer Schweiß und kühles Nass Samstag, 20. Juni 2015: Von Ponte de Lima nach Rubiães (16 km) Heute Morgen zeigen sich einige Pilger von ihrer besten Seite. Draußen ist es noch dunkel und einige sind der Meinung - jetzt gegen 4 Uhr - ihre Sachen packen zu müssen und äußerst geräuschvoll ihre Vorbereitungen für den Aufbruch zu treffen. Das hat natürlich zur Folge, dass alle anderen im Schlafsaal aus ihrem wohlverdienten Schlaf gerissen werden. Jörg und ich schlummern noch im Halbschlaf vor uns hin - doch dann macht eine ältere Britin einen folgenschweren Fehler: sie betätigt den Lichtschalter und unmittelbar danach ist der Raum grell erleuchtet. Sie hat es damit geschafft, alle anderen, die bis jetzt noch einigermaßen ruhen konnten, endgültig zu wecken. Sogleich erhält sie von Jörg einen ordentlichen verbalen Rüffel verpasst, sodass sie unaufgeregt und umgehend das Licht wieder löscht. Doch Sekunden später betätigt der nächste den Schalter... Es ist jetzt kurz nach 5.00 Uhr, und der Schlafsaal mit seinen rund zwanzig Betten ist schon reichlich geräumt. Diejenigen, die noch da sind, richten sich in ihren Betten auf und schauen kopfschüttelnd den Frühpilgern verständnislos zu, wie sie den Saal und danach Herberge verlassen. Irgendetwas muss die Leute heute angetrieben haben, wahrscheinlich die angekündigten Temperaturen um die 34 Grad. Außer uns sind nur noch die zwei Italienerinnen da, die gestern auch in Portela übernachtet haben. Sie lassen sich genau wie wir beide sehr viel Zeit beim Packen. Wir richten schon sehr entspannt und beinahe im Schneckentempo unsere Kleidung und Ausrüstung zurecht. Schließlich verlassen wir tatsächlich als letzte gegen 7.30 Uhr die Herberge. Gleich nebenan öffnet gerade das Cafe Hamburgo, in dem wir gestern einen Großteil der Wartezeit bis zur Öffnung der Herberge verbracht haben. Wir überlegen erst gar nicht lange und sind spontan der Meinung, nach diesen ersten anstrengenden Stunden des neuen Tages eine kleine Stärkung zu uns zu nehmen. Zum Frühstück gibt es dann ausnahmsweise schon sehr früh ein Omelette mit Käse und Tomate. Gegen 8.15 Uhr schultern wir unsere Rucksäcke und verabschieden uns endgültig aus Ponte de Lima. Die ersten Kilometer führen uns über feste Wege und Straßen, oftmals durch grüne Weinlauben, und das bei angenehm kühler Temperatur. Einzelne Wegabschnitte sind zweigeteilt: während der rechte Bereich wohl öfter mit Wasser überflutet ist, wurde der linke Bereich etwas erhöht angelegt, damit man weiterhin trockenen Fußes vorwärts kommt. Wir überholen Thierry, einen älteren französichen Pilger in Sandalen, den wir zwar die letzten Tage immer wieder mal gesehen haben, der aber anscheinend ein Einzelgänger ist und nicht sehr kontaktfreudig gegenüber andern erscheint. Jeder so wie er mag, deswegen ist er aber kein schlechterer Mensch. Man weiß ja nicht, was ihn bewegt, warum er nach Santiago geht oder warum er einfach seine Ruhe haben möchte. An einem Fischteich lädt eine Bar zu einer Rast ein. Im Gegensatz zu den beiden Italienerinnen, die wir hier überholen, erscheint uns jetzt eine Pause noch zu früh. So viel sind wir ja auch noch nicht gelaufen und wir müssen ja auch mal irgendwie weiterkommen. Am Horizont sehen wir schon einen Berg, dem wir uns unaufhaltsam nähern. Wir verbleiben auf dem immer noch sehr gut mit gelben Pfeilen markierten Caminho, bis wir in Codecal in einem kleinen Laden mit Bar - dem Café Nunes - eine Cola trinken. Direkt daneben befindet sich eine kleine, sehr schlicht eingerichtete Kapelle. Nicht nur die Temperaturen steigen an, auch die Wegführung wird profilierter. Auf einem ausgespülten Felsenweg erklimmen wir auf vier Kilometern rund 400 Höhenmeter. Nicht nur die Steigung lässt den Schweiß laufen, die unregelmäßigen Abstände zwischen den unterschiedlich geformten Brocken erfordern höchste Kon-zentration. Wir passieren das Cruz dos Franceses, ein kleines Wegkreuz mitten im Anstieg, bei dem Pilger ihre Last in Form von Steinen ablegen können. Hier sollen Truppen von Napoleon eine empfindliche Niederlage erlitten haben. Daneben hat sich ein Ehepaar aus Österreich zu einer Zigarettenpause niedergelassen und grüßt uns freundlich. Wir wechseln ein paar Worte und steigen weiter aufwärts. Seltsam kommen uns die Plastikbeutel an jedem Nadelbaum vor. Bei genauerem Betrachten stellen wir fest, dass darin Baumharz aufgefangen wird. Nach dem letzten Steilstück haben wir den höchsten Punkt erreicht und genießen bei einer Verschnaufpause die schöne Weitsicht. Von einer Bank winkt uns Alexandra zu, die aber gerade wieder im Aufbruch ist. Hier oben scheint die Sonne richtig kräftig, also genau richtig für eine Pause. Wir ziehen Schuhe, Socken und Hemd aus und legen alles zum Trocknen auf oder an einen wackeligen Holzzaun. Eine gute halbe Stunde später ziehen wir weiter. In dem Moment treffen auch die beiden Österreicher hier oben ein. Der Abstieg erfordert ebenso wie der Aufstieg unsere ganze Aufmerksamkeit, geht es doch über ähnliche Geröllfelder wie beim Aufstieg. Wir passieren eine große Infotafel zum Caminho und eine Quelle. Kurz darauf muss Jörg an einem weiteren Wegkreuz seine Schuhe überprüfen, irgendetwas zwickt im rechten Stiefel. Ich schaue mir derweil die am Kreuz niedergelegten Gegenstände an: Bilder, beschrieben Zettel und Steine. Untereinem Stein entdecke ich ein kleines Medaillon mit einem Schutzengel aus Bronze aus dem Kloster Maria Laach, das sich in der Nähe meines Wohnortes Koblenz befindet. Das ist eine Überraschung. Ich lege das Medaillon wieder an seinen ursprünglichen Platz, bevor wir weiter marschieren. Nur wenige Schritte weiter entdecken wir den Hinweis auf die Rouloute Bar, dem wir gerne folgen, denn sie liegt unmittelbar am Weg in einem Hof. Kurz vor unserem Eintreffen verlässt gerade eine größere Pilgergruppe den Hof. An einem Tisch treffen wir einige bekannte Gesichter: Jan, Alexandra, zwei Spanier und Señor Cerveza sowie ein älteres Ehepaar aus Rottenburg. Jan habe sich schon Sorgen gemacht, da er uns heute noch nicht gesehen hätte, behauptet er zumindest und prostet uns grinsend zu. Auch wir genehmigen uns ein kühles Getränk, bevor wir die letzten Kilometer in Angriff nehmen. Inzwischen machen sich die anderen fertig zum Aufbruch. Wir sitzen noch ein paar Minuten länger und strecken die Beine von uns. Es ist jetzt nicht mehr weit bis Rubiães. Bereits am Ortseingang biegen wir in eine Seitenstraße ein und finden unsere private Unterkunft Quinta das Leiras, wo wir von der Besitzerin Ana herzlich begrüßt werden. Wir richten sofort Grüße von Rainer aus und überreichen ihr die kleine Notiz, die er uns für sie mitgegeben hat. Ana zeigt uns das komfortable Zimmer in einem Nebengebäude am kleinen Pool, mit dem wir mehr als zufrieden sind. Unsere verschwitzte Wäsche verschwindet gleich in der Waschmaschine und dann startet unser Relaxprogramm: duschen, schwimmen, ruhen. Zwei Niederländer sind ebenfalls hier zu Gast, von denen einer fürchterliche Blutblasen an den Füßen hat. Davon sind wir bisher glücklicherweise verschont geblieben. Am Spätnachmittag bezahlen wir das Zimmer und sitzen noch eine Zeit lang bei Ana und ihrem Mann im Wohnzimmer und unterhalten uns ein wenig unter anderem über das Leben in Portugal. Beide sprechen ganz gut Englisch, sodass ein nettes Gespräch dabei herauskommt. Wir nehmen zudem gerne das Angebot von Ana´s Mann an, uns in den Ort zum Restaurant Bom Retiro zu bringen, wo wir ein Pilgermenü einnehmen können. Der Tipp war gut, die Bedienung zuvorkommend und das Menü seinen Preis wert. Besonders hervorzuheben ist der anschließende Chauffeur-Service zur Unterkunft, der im Preis inbegriffen ist. Leider können wir morgen nicht das von Rainer so gelobte Frühstück auskosten, da wir morgen unsere Königsetappe mit rund 37 Kilometern vor uns haben und bereits früh unterwegs sein werden.
Adeus Portugal - Hola España: 37 km, 4 Liter Wasser, Cola, Bier und immer noch gut dabei Sonntag, 21. Juni 2015: Von Rubiães nach O Porriño (37 km) Nach dem entspannten Samstag steht heute für uns die Königsetappe bezogen auf die Länge an. Wir lassen uns um 5.30 Uhr wecken und sind wie geplant um 6.00 Uhr fertig, das Frühstück hat, wie fast jeden Tag, Zeit. Wir verlassen unsere Unterkunft. Draußen ist es noch angenehm frisch und vor allem ruhig. Um diese Uhrzeit geht man hier noch nicht vor die Türe. Nur die Hunde in der Nachbarschaft werden unruhig, als wir an ihren Revieren vorbei laufen. Zunächst gehen wir auf einem Feldweg in Richtung Rubiães und passieren die örtliche Pilgerherberge. Dort ist es ebenfalls noch still, wir sehen durch die Fenster jedenfalls keine im Aufbruch befindlichen Pilger. Hinter der Herberge queren wir die Durchgangsstraße und biegen links auf die ehemalige Via Romana XIX, deren Pflaster teilweise rekonstruiert mit groben Steinen wurde. Wir legen einen flotten Schritt hin und treffen unterwegs Alex und seine Begleiterin sowie Thierry, den schweigsamen Franzose, der selten mit anderen spricht. Heute wünscht er uns sogar "Bonjour". Es sind also doch schon einige Pilger auf dem Caminho. Wir hoffen, in São Bento da Porta Aberta eine Bar zu finden, in der wir etwas zu uns nehmen können. Doch wir haben vergessen, dass es erstens noch sehr früh ist und zweitens Sonntag. Also schlendern wir durch den Ort an verschlossenen Bars vorbei und müssen uns wohl oder übel noch etwas mit der Morgenmahlzeit gedulden. Hinter der Kirche geht es über holpriges Geläuf mit viel Geröll abwärts. Nach zehn Kilometern treffen wir gegen 8.00 Uhr an der privaten Herberge Quinta Estrada Romana ein, die idyllisch im Grünen liegt. Hier wollten wir eigentlich gestern übernachtet haben, jedoch hatte ich niemanden per Telefon erreicht. Das Haus mit den blauen Fensterrahmen fällt vom vorbeiführenden Weg sofort auf, erscheint momentan ziemlich verlassen. Da auf einer Hinweistafel Frühstück angeboten wird, überlegen wir nicht lange und wollen einfach mal nachfragen, ob wir etwas bekommen können. Vom Hof hat man zu Küche und Speiseraum Zutritt. Dort sind gerade zwei Frauen mit Aufräumarbeiten beschäftig. Nut wenige Augenblicke später sitzen wir an einem Tisch im Hof und haben einen Café con leche sowie zwei Boccadillos mit Käse vor uns liegen, und das ganze „por donativo“. Wir hinterlegen unseren Obulus in der Spendenbox und füllen auch noch unseren Wasservorrat auf. Es dauert jetzt noch einmal ungefähr genauso lange, bis wir die portugiesische Grenzstadt Valença erreichen. Ein trotz Sonntag geöffneter Supermarkt erfreut uns sehr. Wir füllen dort noch einmal unsere Wasservorräte auf und besorgen uns ein paar kleine Snacks, die sofort vor dem Markt verzehren. An einer großen Kreuzung kann man nach links zur örtlichen Herberge gehen. Wir haben jedoch noch einiges vor uns und laufen zu einem relativ kleinen Tor in der Festungsmauer, das uns in die Altstadt bringt. Hier warten in den schattigen Gassen einige Geschäfte und Bars auf Kundschaft. Die Anzahl der Menschen, die sich hier aufhalten, ist allerdings noch überschaubar. Am Rathausplatz ist es deutlich sonniger, jedoch sind die angebotenen Plätze unter Sonnenschirmen noch unbesetzt. Die weit geöffneten Tore der Igreja Santa Maria Dos Anjos laden zu einem Blick hinein ein. Die Kirche ist komplett leer geräumt, da sie anscheinend renoviert wird. Auf einer der vorgelagerten Bastionen der mächtigen Festungsanlage machen wir unsere nächste Pause, ziehen Stiefel und Socken zum Trocknen aus und legen uns flach ins Gras. Von hier oben hat man einen tollen Blick auf die Internationale Brücke über den Rio Miño zwischen Valença und Tui, also zwischen Portugal und Spanien. Im Hintergrund thront die Kathedrale von Tui auf einer Anhöhe, umgeben von eng aneinander liegenden Häusern mit roten Dächern. Ja, wir müssen gleich Portugal verlassen, das uns mit seiner Landschaft und seinen Menschen sehr gut gefallen hat. Am Fuße der Brücke kehren wir in einer Bar ein und gönnen uns ein Eis. Dort treffen wir auch Alex und Begleitung, die sich vor dem Grenzübertritt ein kühles Bier genehmigen. Beim Gang über die Brücke habe ich erstmals ein leichtes Gefühl der Freude auf das Ankommen in Santiago. Genau in der Mitte der Brücke ist die Grenze zwischen den beiden iberischen Ländern durch eine unscheinbare weiße Plakette markiert, die ich beinahe übersehen hätte. Wir sind jetzt in Spanien, in Galicien. Hier ist alles etwas anders: die Markierungen des Jakobsweges, die Geschwindigkeit der Autos, aber vor allem auf den ersten Eindruck die Menschen. Ich habe den Eindruck dass auf der spanischen Seite alles etwas verkommener ist. Wir werden zum Ufer des Rio Miño geleitet, von wo wir noch einmal nach Valença zurückschauen und das ganze Ausmaß der Festungsanlage erkennen. Ein Wegweiser zeigt uns die Kilometerzahl 115,454 an. Wir haben also schon deutlich über die Hälfte unseres geplanten Weges unbeschwert hinter uns gebracht. Wir schlängeln uns durch schmale Gassen aufwärts bis zur Kathedrale von Tui, wo ich mit einer (elektronischen) Kerze meines verstorbenen Bruders Martin gedenke, für den heute in meiner Heimat ein Gedenkgottesdienst gehalten wird. In der Kathedrale laufen gerade die Vorbereitungen für eine Taufe, und da wollen wir nicht lange stören. Ein kurzer Rundgang muss heute genügen. Anschließend holen wir uns in der Tourist-Info den Pilgerstempel ab und marschieren gleich weiter. Dabei verlassen wir uns auf die Wegzeichen, die zur öffentlichen Herberge direkt neben dem Gotteshaus führen. Wir steigen auch noch unbedacht die Treppe zur nächsten Querstraße herab, um dort festzustellen: hier geht es für uns nicht weiter. Glücklicherweise ist uns dieser Fehler aufgefallen, sonst wäre es wohl ein sehr langer Tag geworden. Wieder auf der richtigen Route schaue ich kurz in die Klosterkirche der Klarissen hinein. Da dort aber gerade das Mittagsgebet stattfindet, ziehe ich mich leise wieder auf die Straße zurück. Die Hitze macht uns schon zu schaffen, aber wir sind tapfer und ziehen das heute durch. Wir verlassen Tui entlang einer Durchgangsstraße und erreichen Virxe do Camiño. Nur wenige Schritte abseits des Weges ist eine Bar, die wir erfreut aufsuchen und eine Rast einlegen. Wir verdampfen jeder ein großes Bier und eine Dose Cola. Dazu nehmen wir noch zwei große Flaschen Wasser mit. Der folgende Wegabschnitt lässt uns zunächst fast zwei Kilometer an einer zum Glück nicht stark befahrenen Straße entlanggehen, danach geht es durch ein angenehm kühles Waldstück. Am Cruceiro San Telmo finden wir einen Zettel, der die korrekte Wegführung ab Orbenlle darstellt. Auf diese Stelle hatte uns Rainer in Lavra bereits hingewiesen. Dort hat oder gibt es Streitereien über den Weg: entweder der alte durch ein Industriegebiet oder der neue durch ein Naturschutzgebiet. Die gelben Pfeile werden jedenfalls regelmäßig schwarz oder wieder gelb übermalt. Dazu gibt es ist an der Wegtrennung eine große Hinweistafel, die jedoch aktuell - fast nicht erkennbar - in der Böschung liegt. Wir bereuen es nicht, den neuen Weg durch die Natur oder an überfluteten Wirtschaftswegen vorbei zu pilgern. Unterwegs überholen wir einige weitere Pilger, ansonsten ist die Route nicht so belebt. Große Freude bereitet uns ein Unterstand mit einem Getränkeautomat, dem wir die letzten beiden Cola-Dosen entlocken. Wir unterhalten uns dort mit zwei spanischen Pilgern, von denen einer sogar eine paar Wochen an einer deutschen Schule in Leipzig verbracht hat. So langsam sehnen wir uns die Herberge herbei. Die Schritte werden schwerer und die Landschaft gibt auch nicht mehr viel für das Auge her. Eine langgezogene, einsame Straße an einem Motodrom und einer Radrennbahn bietet nicht mehr allzuviel Abwechslung. Doch erreichen wir nach einem langen Marsch O Porriño. Es geht noch zwei Kilometer an einem Bach entlang - dann sind wir da. Bilanz des Tages: 37,3 km, circa 4 Liter Wasser, Cola, Bier, salzige Erdnüsse, 4 Pilgerstempel und ein Bett in der öffentlichen Herberge. Im Untergeschoß befindet sich die Rezeption, eine kleine Küche, die Sanitäranlagen und ein großer Aufenthaltsraum. Wir bekommen bei der Anmeldung neben die in Galicien üblichen Einmalbezüge und suchen uns danach ein Bett in einem der beiden Schlafsäle im Obergeschoß aus. Es gibt nur noch wenige freie Betten. In unserem Schlafsaal ist es bei geöffneten Fenstern drückend warm - das kann ja mit rund dreißig Pilgern in dem Raum eine unruhige Nacht werden. Nach den üblichen Pflegemaßnahmen an Körper und Material gehen Jörg und ich in die Stadt, um etwas zu essen. Leider hat noch keine Restaurant geöffnet. Wir sprechen eine junge Frau an, wo wir etwas zu essen bekommen können. Und das war ein Glücksfall, denn sie nimmt uns mit in das Restaurant Malosera, in dem sie bedient. Der Rest des Tages ist schnell erzählt: es gibt Bier und Pulpo. Es war mein erster Pulpo, und der war soooo lecker. Wir bleiben noch ein wenig im Malosera - zwischendurch werden immer wieder kleine Häppchen gereicht. Dann wird es doch Zeit, wieder zur Herberge zurückzukehren, denn diese wird rigoros um 22.00 Uhr abgeschlossen, trotz der herrschenden Hitze.
Galizischer Regen trifft die beste Entscheidung des Tages Montag, 22. Juni 2015: Von O Porriño nach Cesantes (18 km) Nach unserer Mammut-Tour von gestern und dem großen, Schlafsaal in der Herberge von O Porriño hatten wir uns schon auf eine unruhige Nacht eingestellt. Wie üblich, werden die öffentlichen Herbergen zu einer bestimmten Uhrzeit geschlossen und bald darauf geht auch das Licht aus. In Ponte de Lima hatten wir schon einmal das Vergnügen mit ein paar Engländern, die um 4.00 Uhr mit entsprechendem Lärmpegel ihren Abmarsch vorbereiteten. Aufgrund der guten Belegung vermuteten wir hier Ähnliches. Dazu kam noch die unangenehme, drückende Raumtemperatur, die auch durch sämtliche geöffneten Fenster und Türen nicht merklich reguliert werden konnte. Draußen war es sogar besser auszuhalten, als in der Herberge. Wider Erwarten gestaltet sich der Aufbruch der anderen Pilger sehr unaufgeregt. Um 4.45 Uhr wache ich erstmals auf und sehe, wie neben Jörg ein Mann seine Sachen zusammen packt und dabei versucht, jegliche Nebengeräusche zu vermeiden. Erst über zwei Stunde später wache ich erneut auf und beobachte weitere Pilger beim geräuscharmen Verpacken. So rücksichtsvoll sollte es eigentlich immer geschehen. Kurz darauf stehe ich auf und erledigte meine Morgentoilette. Anschließend ist auch Jörg schon wach und wir beginnen mit unseren Vorbereitungen. Inzwischen sind beide Schlafsäle bis auf weitere vier Pilger wie leergefegt. Zum zweiten Male sind wir die letzten und schließen praktisch die Herberge ab. Vor dem Gebäude ziehen vor der Herberge unsere staubigen Wanderschuhe an, unterhalten uns bei einem Heißgetränk aus dem Automaten ein wenig mit einem jungen Pärchen aus Köln und geben noch ein paar Tipps. Um 7.45 Uhr brechen auch wir auf. Zunächst geht es auf einer Ausfallstraße und Nebenwegen heraus aus O Porriño. An einer unübersichtlichen Ecke stoßen wir anscheinend auf eine nicht im Buch beschrieben Variante, die uns trotzdem nach rund sechs Kilometern nach Mos bringt. Auf dem Weg dahin überholen wir einige Pilger mit auffällig kleinen Tagesrucksäcken und passieren eine kleine Herberge. In Mos zeigt sich auch erstmals die kommerzielle Seite des Caminos. Vor uns befindet sich ein kleiner Shop, in dem man alles kaufen kann, was der Pilger braucht, aber auch das, was der Pilger nicht unbedingt benötigt. Ich kaufe mir ein paar Pins als Andenken mit. Das kleine Kirchlein nebenan ist leider verschlossen, wie so oft in den kleineren Ortschaften. Um die nächste Ecke herum machen wir schon die nächste Pause - denn da befindet sich direkt gegenüber der Pilgerher-berge von Mos eine kleine Bar. Wir bestellen uns zum Frühstück ein Bocadillo und verzehren dieses zufrieden. Kurz darauf setzt sich das österreichische Paar, das wir vor drei Tagen am Cruz dos Franceses erstmals trafen, zu uns und genießt ebenfalls ein kleines Frühstück. Im Laufe eines angeregten Gespräches verlieren wir beinahe den Blick für die Zeit. Doch davon haben wir ja auf dem Caminho ausreichend, und wir lassen uns auch von nicht in Eile versetzen. In der weiteren Folge müssen wir zwei kürzere, dafür aber steile Anstiege bewältigen. Nach dem letzten Anstieg überholen wir wieder einige andere Pilger, die wir während der Pause vorbei ziehen lassen mussten. Wir durchqueren einen Wald und wundern uns über den regen Flugverkehr. Erst heute Abend sollten wir erfahren, dass wir uns entlang der Einflugschneides des Flughafens von Vigo bewegt haben. Schließlich haben wir auf einer Anhöhe oberhalb eines Bahnviaduktes einen schönen Blick auf Redondela, der jedoch ein wenig durch die heutige Bewölkung eingetrübt ist. Dafür sind die Temperaturen aktuell nicht so hoch, die Luftfeuchtigkeit sorgt trotzdem für Schweiß auf der Haut. Es geht in wenigen Serpentinen abwärts - und der Abstieg nach Redondela ist nicht minder beschwerlich wie der Aufstieg. Es ist Langsamkeit angesagt, sonst geht das zu sehr in die Oberschenkelmuskulatur. Wir schlendern durch die feuchten Straßen von Redondela, vorbei an einem Viadukt aus dem 19. Jahrhundert. Es scheint hier vor wenigen Minuten ein Regenschauer herabgekommen zu sein. Das kennen wir auf unserer Pilgerwanderung ab Porto noch gar nicht. Und dann ereilt uns mitten in der Stadt doch noch ein leichter Anflug von Nieselregen. Es tröpfelt zwar nur leicht, jedoch ziehen wir vorsichtshalber die Regenhüllen über die Rucksäcke, bevor wir weitergehen. Vom Regen abgelenkt, verpassen wir eigentlich alles in der Stadt, in der die nächste Pause geplant war. Zudem erscheint uns die Stadt nicht besonders ansprechend und wir finden auch auf unserem Weg keine Einkehrmöglichkeit, die uns spontan gefällt. Irgendwie ist hier alles mit alten und neueren Gebäuden zugebaut. Mitten in einem Wohngebiet steht völlig deplatziert ein Hórreo, ein traditioneller galizischer Getreidespeicher. Wahrscheinlich standen hier in der Vergangenheit anstelle der Hochhäuser ganz andere Gebäude. Wir wollen heute bis Arcade laufen und in de dortigen Herberge die Nacht zu verbringen. Der Regen nervt jetzt doch ein wenig, auch wenn er immer noch nicht sehr stark ist. So entscheiden wir uns spontan, nur bis Cesantes, dem nächsten Ort zu gehen. Im Pilgerführer wird Maries Herberge, die korrekterweise O Refuxio de la Jerezana heißt, angepriesen. Am Ende eines Feldweges erreichen wir eine stark befahrene Straße und biegen dort nach rechts - abseits des markierten Weges - ab. Die Herberge liegt nur ein paar Hundert Meter von dem Abzweig entfernt. Hinter einem stählernen Tor befindet sich das rötlich gestrichene Wohnhaus der Betreiberin, dahinter die eigentliche Herberge. Auf der Stirnseite ist der Name des Hauses in großen Lettern zu lesen. Bei Marie haben wir Glück: es sind erst eine Handvoll Pilger eingetroffen und noch ausreichend Betten frei. Marie, die Betreiberin des Refugios mit spanischen Wurzeln, stammt aus Baden-Baden und lebt nach ihrem Studium seit circa zehn Jahren in Spanien. Seit einem Jahr besteht das Refugio, das sehr liebevoll in der ehemaligen Werkstatt ihres Vaters und mit ihren eigenen Pilgererfahrungen gestaltet wurde. Die in kleinen Gruppen zusammengestellten und mit Raumteilern versehenen Betten hat sie zusammen mit ihrem Vater gezimmert. Jedes Bett verfügt zudem über eigene Steckdosen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Marie sorgt sich rührend darum, dass der Aufenthalt angenehm ist. Sie stellt dafür nicht nur Betten und Dusche zur Verfügung, sondern besorgt auf Wunsch für den Abend ein Pilgermenü, hat Waschmaschine und Trockner und bietet bei Bedarf sogar die Vermittlung einer Massage an. Da ist Jörg sofort mit dabei, die hat er sich nämlich gestern schon gewünscht - und das Universum hat mal wieder geliefert. Wir fühlen uns jedenfalls sauwohl und freuen uns auch über die netten Gespräche mit ihr. Dabei erzählt sie von ihren Plänen, Ideen und auch Sorgen. Für ihre Vorhaben wünschen wir ihr ein gutes Gelingen. Nachdem wir uns frisch gemacht haben, folgen wir ihrem Tipp und machen einen kleinen Spaziergang hinunter Enseada de San Simón, wo gerade ein Wassersportler seinen Fallschirm zusammenpackt. Über die Insel San Simón erkennt man im Dunst gerade noch die Puente de Rande mit ihrer imposanten Stahlseilkonstruktion. Wir gönnen uns an einem Kiosk noch ein Eis und gehen gemütlich wieder zurück zu Herberge, da wir gleich unser Abendessen bekommen. Inzwischen sind in der Herberge weitere Pilger eingetroffen, es gibt aber immer noch freie Betten.
Keine Austern - aber gegrillter Fisch bei Sergio Dienstag, 23. Juni 2015: Von Cesantes nach Portela (27 km) Gestern Abend haben wir noch Markus aus Eslarn in der Oberpfalz kennengelernt. Er ist Anfang Mai von Sevilla die Via de la Plata nach Astorga gepilgert. Von dort ist er nach Porto gefahren und weiter gelaufen. Es waren spannende Gespräche über seinen Camino, das Leben und überhaupt. Markus hatte sehr viel zu erzählen, auch ziemlich persönliche Angelegenheiten. Bei einem guten Glas Wein haben wir auf der Terrasse von Maries Wohnhaus den Abend zu Dritt ausklingen lassen. Die Nacht habe ich sehr gut geschlafen, das Bett war klasse. Erst sehr spät wachen Jörg und ich auf, eigentlich wollten wir schon deutlich früher los. So lassen wir uns halt Zeit, nehmen ein kleines Frühstück ein - gemeinsam mit Markus und einem jungen französischen Paar. Um 7.45 Uhr müssen wir uns dann von Marie verabschieden. Wir wünschen ihr alles Gute für ihre Herberge und Pläne, drücken sie noch einmal ganz herzlich. Das Wetter ist heute fast so wie gestern: dichte Wolken, grau und frisch - aber zum Pilgern noch sehr angenehm. Schon nach wenigen Schritten sind wir wieder auf dem markierten Weg und passieren eine Balkenkonstruktion, an der Querschnüre mit unzähligen Jakobsmuscheln befestigt sind. Die Muschelschalen sind von Pilgern aus der ganzen Welt beschriftet und sollen hin und wieder erneuert werden, damit auch andere Pilger die Möglichkeit haben, sich zu verewigen. Es geht nun im Wechsel auf- und abwärts nach Arcade, wo es die weltbesten Austern geben soll. Leider finden wir zu der frühen Morgenstunde keine Möglichkeit, diese Delikatesse zu kosten. Sämtliche Restaurants sind noch geschlossen, und zum Frühstück sind Austern mit ihrem meerestypischen Geschmack sicherlich nicht die beste Wahl. An einem Baum hängt der erste Hinweis auf unsere Unterkunft in Portela. Auf einer Anhöhe bietet sich ein toller Blick auf die Enseada de San Simón. Über eine historische Brücke erreichen wir Ponte Sampaio, immer noch auf der Römerstraße XIX. Auf der anderen Seite der Brücke befindet sich ein großer Hórreo, der auf dem Titel unseres Führers abgebildet ist - allerdings spiegelverkehrt und mit neuen Dachpfannen versehen). Wir machen eine kleine Pause und erstellen eine Kopie des Titelbildes mit uns beiden davor. Wir laufen weiter durch schmalste Gässchen und verlassen die Ortschaft schließlich in ein naturbelassenes Gebiet. Es folgt nun ein etwas stärkerer Anstieg über römische Pflastersteine, die so angeordnet sind, dass man bei jedem Schritt aufpassen muss, wo man seinen Fuß hinsetzt. Der unwegsame Abschnitt endet an einer kaum befahrenen Straße, von der wir in ein Waldstück abbiegen. Auf der Höhe treffen wir auf einen jungen Mann, der Getränke verkauft, aber auch mit Tipps zum Wegeverlauf aufwartet. Zunächst geht es weiter durch den Wald - vornehmlich Eukalyptusbäume. Hinter einer Wegbiegung befindet sich eine Sitzbank, auf der sich unsere österreichischen Freunde genüsslich eine Zigarettenpause gönnen. Es ist schön, sie wieder treffen. Kurz darauf gibt es in einer kleinen Kapelle einen Stempel und damit verbunden einen ersten Pilgerstau. So viele Pilger wie hier haben wir bisher - mit Ausnahme in den Herbergen - noch nicht auf einem Flecken getroffen. Es dauert eine Weile, bis auch Jörg und ich an den Stempel rankommen, sodass wir den Aufenthalt zu einer kurzen Trinkpause nutzen. Im weiteren Verlauf des Camino finden wir am Wegesrand immer häufiger Hinweise und Darstellungen mit Bezug auf den Camino. Das können Jakobusstatuen oder Muscheln sein, einmal sogar der Jakobusschrein. Wir nähern uns Pontevedra und überholen wieder einmal einige Pilger, von denen einige deutlich erkennbar durch ein kleines Fähnchen am Rucksack als Brasilianer erkennbar sind. Die meisten bleiben wohl in der Pilgerherberge von Pontevedra. Wir beide haben unser Tagesziel noch nicht erreicht und laufen weiter durch eine belebte Stadt. Diese macht auf uns zunächst einen unschönen Eindruck - überall hoch aufragende Häuserschluchten. Erst rund um die Capela da Virxe Peregrina de Pontevedra - einer Kirche mit dem Grundriss einer Muschel - erkennt man Züge der Altstadt. Nachdem wir die Kirche besichtigt und uns im Eingangsbereich einen Stempel abgeholt haben, ziehen wir weiter durch die Stadt in der Hoffnung, jetzt zur Mittagszeit eine Portion Meeresfrüchte zu ergattern. Wir gelangen an die imponierende Brücke über den Río Lérez mit ihren neun Bögen und daran angebrachten Muschelverzierungen. Da wir kein Fischrestaurant finden, entscheiden wir uns praktisch kurz vor Verlassen von Pontevedra in einer Bar eine Portion Tortilla, Calamares und Patatas zu essen. Vor uns liegen noch rund neun Kilometer bis zur Herberge von Portela, die überwiegend auf Waldwegen absolviert werden müssen. In einer kleinen Ortschaft sind wir sehr erfreut über einen Getränkeautomat, den eine Familie in ihrer Garage zur Verfügung stellt. Etwas später überholen wir an einer Bar auf eine Gruppe älterer Pilger und genau hier öffnet der schon den ganzen Tag graue Himmel ein wenig seine Schleusen. Die Straße führt leicht abwärts bis zu einer Kirche mit Friedhof. Unmittelbar dahinter befindet sich die kleine, mit blauen Fensterläden und Türen versehene Pilgerherberge, wo wir gegen 14.30 Uhr eintreffen. Wir sind bis auf eine in Spanien lebende Schwedin, die auf drei Kanadier und einen Amerikaner wartet, die ersten. Das muss die Gruppe gewesen sein, die wir eben noch überholt haben. Hospitalero Sergio, der im Rollstuhl sitzt, war selbst schon zweimal mit seinem Gefährt auf dem Camino unterwegs. Kurz danach kommen auch die Erwarteten. Der kleine Schlafraum ist mit sechzehn Betten ausgestattet. Noch haben wir die Auswahl und entscheiden uns für zwei Betten in der Nähe des Fensters. In einem Nebengebäude, einer alten Schule, können noch weitere Pilger auf Matratzen untergebracht werden. Nach dem Duschen und Wäsche waschen helfen Joan aus Kanada, Jörg und ich Sergio in der Küche beim Kochen: Salat waschen, Zwiebeln schneiden, Tomaten würfeln. Wir haben viel Spaß dabei und führen eine nette Unterhaltung. Während er uns liebevoll Anweisungen über die Art und Weise der Bearbeitung der Zutaten oder deren optimale Größe erteilt, bereitet Sergio einige Fische vor, die später auf dem Grill landen sollen. Zur Belohnung gibt es Rotwein für alle, der die Redseligkeit aller in der Küche befindlichen Personen deutlich steigert. Später treffen noch zwei weitere Amerikaner, zwei junge Spanier, ein spanisch-italienisches Pärchen, das uns schon in Portela de Tamel begegnet ist, sowie drei Frauen aus dem Raum München ein. Zur Freude aller reißen vor dem gemeinsamen Mahl auch noch die Wolken auf und die Sonne lacht uns erstmals seit zwei Tagen wieder an. Unsere Vorbereitungen auf das Abendessen haben sich gelohnt. Was Sergio daraus gezaubert hat, ist schon Klasse. Mit Unterstützung - ich vermute, es ist sein Sohn - wird der Grill angeworfen und mit den Resten von Maiskolben befeuert. Kurz darauf liegen Sardinen und weitere Fische drauf. Dann wird das Signal gegeben, sich draußen an der langen Tafel zu sammeln. Zuvor wird aber noch ein Gebet für alle am Vortag in der Herberge anwesenden Pilger gesprochen, diese werden auch mit ihrem Namen aufgerufen. Dann machen wir uns mit großem Hunger über den Fisch, Spaghetti mit Tomatensauce, russischen Salat, Gemüsepaella und gemischtem Salat her. Es bleiben zwar einige Reste, aber es hatte für alle gereicht. Anschließend wird gemeinsam aufgeräumt und gespült. Besonderes Geschick zeigt dabei einer der Spanier, des sich sofort das Spülbecken in Beschlag genommen und sich nicht davon vertreiben lässt. Als wir fertig sind, sehen seine Hände weiß und aufgeweicht aus. Während wir aufräumen, befüllt Sergios Sohn eine feuerfeste Schale mit einer hochprozentigen Flüssigkeit und gibt Zitronenschalen, Zucker und Kaffeebohnen dazu. Schließlich ruft er alle Pilger in die Küche, löscht das Licht und entzündet die Schale. Heute ist in Spanien Feiertag, San Juan (Johannistag). Wir werden nun Zeuge eines Rituals, das an diesem Tag Tradition hat. Zu keltischer Musik spricht er eine magische Formel, mit der alles Böse zur Sommersonnenwende vertrieben werden soll. Dabei schöpft er immer wieder mit einer Kelle die brennende Flüssigkeit ab und lässt sie wieder in die Schale fließen. Der Text wird dann noch Pilgern auf Deutsch, Englisch und Italienisch vorgelesen. Zu guter Letzt dürfen wir den guten, inzwischen stark eingedampften, zu uns nehmen. Nach einem Foto der Pilgergruppe verabschieden wir gemeinsam Sergio und seine Familie mit herzlichem Dank und Applaus für diesen schönen Abend. Einige von uns sitzen noch eine Weile im Garten der Herberge bei einem Bier oder Rotwein und lassen den erlebnisreichen Tag ausklingen.
Jörg und Wolfgang - an der Zimmerdecke für die Ewigkeit Mittwoch, 24. Juni 2015: Von Portela nach Padrón (30 km) Die Nacht verlief wiederum sehr ruhig und Jörg und ich schlafen bis kurz vor sechs. Um uns herum ist schon rege Bewegung zu Gange, jedoch ohne großartige Störung derer, die noch in ihren Schlafsäcken schlummern. Ich packe auch meine am gestrigen Abend zurechtgestellten Bündel und begebe mich in den Garten. Auf einer kleinen Holzbank lege ich mein Gepäck ab und lasse mich nieder. So richtig wach bin ich eigentlich noch nicht, daher sitze ich einfach nur so auf der Bank und schau in den grauen, wolkenverhangenen Himmel. Es ist ruhig hier draußen, nur ein paar Vögel tragen mir ihr Lied zum Beginn eines neuen Pilgertages vor. Gedankenverloren lasse ich meine Sachen auf der Bank liegen und gehe um die Herberge herum zur Straße. Auf der linken Seite befinden sich der Friedhof und die Kirche. Wie gerne würde ich mich jetzt in das schützende Gemäuer begeben und ein wenig die besondere Atmosphäre aufsaugen, die alte Kirchen in sich bergen. Die ersten Pilger machen sich auf den Weg. Das ist für mich das Zeichen, auch meinen Rucksack zu packen und mich auf den Abmarsch vorzubereiten. Durch ein Fenster erkenne ich, dass Jörg inzwischen auch auf den Beinen ist. In der Küche versammeln sich einige, um sich dort einen Kaffee aufzubrühen. Gegen 7.30 Uhr verlassen wir die Herberge und machen uns auf den Weg. Eine gute Stunde später stellen wir fest, dass wir heute schnell unterwegs sind. Das Wetter ist genauso trüb und bewölkt wie gestern. Unter üppig mit Trauben behangenen Weinlauben begegnet uns ein Radpilger, der wohl auf dem Rückweg von Santiago zu sein scheint. An der folgenden Hauptstraße entdecken wir erstmals ein Schild mit einer Entfernungsangabe nach Santiago: 40 km. Das ist allerdings die Entfernung auf der Straße. Wir laufen weiter durch Weinlauben parallel zu der Landstraße und passieren in der Nähe von Briallos den für uns relevanten 50-km-Stein. Kurz darauf treffen wir in Tivo ein und beschließen, in der noch neuwertig aussehenden Albergue Catro Canos ein kleines Frühstück einzunehmen. Wir bestellen uns ein Bacadillo mit Käse und Seranoschinken, das hervorragend schmeckt. Hier rasten übrigens auch die beiden zwei Spanier aus Portela, die wir heute noch öfter überholen werden. Als wir beide aufbrechen wollen, kommen gerade unsere Pilgerfreunde aus Kanada und den USA an, um hier ebenfalls zu pausieren. Sie gehen zielstrebig in den angrenzenden Garten, in dem einige Sitzgelegenheiten zum Verweilen einladen. Wir verabschieden uns heute bereits zum zweiten Mal von ihnen. Nur zwei Kilometer weiter sind wir schon in Caldas de Reyes, wo wir uns von einer Schwedin auf der Römerbrücke ablichten lassen. Direkt dahinter befindet sich die von Palmen umringte Igreja Santo Tomas, die unser Interesse weckt, sodass wir einen Blick hinein werfen. Sie macht einen einfachen, nicht überfrachteten Eindruck und wir finden eine Statue des Heiligen Rochus in "Pilgerkluft" darin. Von einer Dame, die aus der Sakristei auf uns zukommt, werden wir gefragt, ob wir einen Stempel haben möchten. Wir geben ihr gerne unsere Pilgerausweise mit. Ich bin tief beeindruckt von ihrem Respekt uns Pilgern gegenüber, den sie uns sichtbar in Form einer Verbeugung entgegenbringt. An einer Kapelle und einem Brunnen vorbei verlassen wir den Ort. Der weitere Camino führt uns über Feldwege und eine wunderschöne Naturlandschaft. Überall werden Wein, Mais und Kohl angebaut, als Begrenzungen werden Granitpfeiler aus den umliegenden Steinbrüchen genutzt. Unsere nächste Pause machen wir in einer Bar in O Cruceiro, wo wir etwas trinken und die Wasservorräte auffüllen. In einem Nebenraum sind die Wände mit den Unterschriften unzähliger Pilger aus der ganzen Welt versehen. Da sonst kaum noch Platz ist, werden wir von der Besitzerin aufgefordert, auch die Decke zu nutzen. Ich bin zu klein dafür, daher übernimmt Jörg diese Aufgabe und schreibt unsere Namen, hoffentlich für die Ewigkeit, an die Decke. Nur wenige Schritte weiter gehen wir an der kleinen Kirche Santa Mariña de Carracedo vorbei. Diese wird gerade gereinigt und so haben wir die Möglichkeit, die sonst verschlossene Kirche anzusehen. Auch hier gibt es eine Rochusdarstellung. Im weiteren Verlauf pilgern wir durch ein bewaldetes, grünes Tal an einem Bach entlang - ein wunderschöner Weg. Hier ist nur das leise Rauschen des Baches und der Blätter im leichten Wind zu hören. Am Rande des Caminos sind jetzt häufiger Jakobusdarstellungen zu entdecken. Dabei lassen sich viele Anwohner einiges einfallen, um ihre Häuser und Grundstücke zu verschönern und die vorbei ziehenden Pilger zu erfreuen. Wir treffen auf kleine und große Jakobusstatuen oder geschmückte Wegekreuze. Wir durchqueren Cortiñas und streifen Casalderrique, folgen der Überführung über die Autobahn und erreichen O Pino, wo wir in der Bar Los Camineros für eine Erfrischung einkehren und eine kleine Pause einlegen. Wir ziehen Schuhe und Socken aus und prüfen unsere Füße, können aber keine Druckstellen erkennen. Darüber sind wir sehr erfreut, denn auf die Fußpflege legen wir morgens und abends sehr großen Wert. Sowohl Jörg als auch ich sind schmieren regelmäßig Hirschtalg auf die stark strapazierten Gehwerkzeuge. Damit sind wir in den letzten Jahren immer sehr gut gefahren. Manchmal hatten wir zwar kleinere Problemchen, aber aus den damals gemachten Fehlern haben wir unsere Lehren gezogen. Gerade bewegen wir uns an einer kleinen, grauen Kirche mit einem angrenzenden Friedhof vorbei. Dieser besteht aus mehreren Doppelreihen, in denen schubladenartig Begräbnisnischen vorhanden sind. In diesen Nischen werden die Särge abgelegt und mit einer Gedenktafel versehen. Das ist eine platzsparende und stilvolle Variante. Heute laufen Jörg und ich längere Passagen schweigend nebeneinander her. Nein, es ist nicht so, dass wir uns nichts mehr zu sagen hätten. Ich denke, dass sich allmählich eine gewisse Anspannung aufbaut, das Ziel Santiago zu erreichen. Nach einer etwas langatmigen Passage ab Pontecesures erreichen wir in Padrón neben dem kleinen Flüsschen Sar eine breite Baumallee und laufen auf die Jakobskirche zu. Davor geht es nach links über eine Brücke und danach hinter dem Brunnen Fuente del Carmen einige mit groben Steinplatten versehene Stufen hoch zur öffentlichen Herberge, die sich unterhalb eines nicht zugänglichen Karmeliterinnen-Konvents befindet. Von dem Vorplatz des Klosters hat man einen schönen Ausblick auf Padrón. Es ist jetzt 15.15 Uhr und wir erhalten an der Rezeption die Nummern 38 und 39, zwei Pilgerstempel und den Einmalbezug. Die einfache Herberge verfügt über 46 Plätze in Doppelstockbetten, die in einem großen Schlafsaal im Obergeschoß in Zweierreihen angeordnet sind. Am Rande der Betten ist gerade noch genug Platz für die Rucksäcke und eine schmale Gasse zum Vorbeigehen. Die Auswahl an freien Betten ist bereits sehr beschränkt, doch wir finden doch noch die beiden letzten freien und nebeneinander liegenden Betten, die wir sofort in Beschlag nehmen. Viele Pilger liegen erschöpft in ihren Betten und schlummern vor sich hin. Bekannte Gesichter können wir noch keine entdecken. Wenig später trifft noch das italienisch-spanische Pärchen ein, die wir heute auch unterwegs mehrfach getroffen haben. Die beiden bekommen die letzten freien Betten. Bis auch wir uns ein wenig ausstrecken können, haben wir noch einiges zu tun. Im Erdgeschoß befinden sich ein großer Aufenthaltsraum, die wenigen Duschen und Sanitäranlagen. Das Verhältnis zu den Übernachtungsgästen ist zwar nicht ganz passend, aber es scheint niemanden zu stören, wenn man etwas warten muss. Nach der Körperpflege ist Waschen angesagt. In einem kleinen Hof befinden sich zwei Waschplätze, an denen wir unsere verschwitzte Kleidung mit Seife und Flüssigwaschmittel bearbeiten. Zum Glück hat Jörg Wäscheleine dabei, sonst hätten wir jetzt ein Problem. An sämtlichen Haken der Umgebungsmauer sind Leinen befestigt, die keinen weiteren Platz für nasse Wäsche bieten. Im hintersten Eck finden wir einen kleinen Baum, der jetzt für unsere Leine herhalten muss. Zusammen mit zwei Haken an der Hauswand haben wir rasch unseren Wäschetrockner gebaut, der alle Teile aufnehmen kann. Und das Beste ist, dass die Sonne dieses Fleckchen des Hofes noch mit ihrer ganzen Kraft bescheint. Anschließend richten wir unsere Ausrüstung her und bereiten unser Nachtlager vor. Da die Zeit schon recht fortgeschritten ist, wollen wir uns ein Restaurant für das Abendessen suchen. Nachdem wir zwei Runden durch die schmalen Gassen von Padrón gedreht haben, entscheiden wir uns für das H2O, wo wir ein preiswertes und reichhaltiges Pilgermenü bekommen. Ein kurzer Verdauungsspaziergang in der Abenddämmerung beendet unsere Aktivitäten für den heutigen Tag. Wieder zurück in der Herberge sammeln wir unsere trockene Wäsche ein, verpacken diese und machen uns fertig für die Nacht. Um uns herum ist es schon sehr ruhig geworden, es wird mit Rücksicht auf die bereits Ruhenden nur noch geflüstert. Wir - und ganz besonders ich - sind schon sehr gespannt auf den morgigen Tag. Es sind jetzt nur noch 24 Kilometer, bis ich zum ersten Mal in Santiago sein werde.
Wir sind dann mal angekommen Donnerstag, 25. Juni 2015: Von Padrón nach Santiago de Compostela (24 km) Anscheinend wurden bei unserem San-Juan-Ritual doch nicht alle bösen Geister vertrieben - und die übrigen befanden sich wohl ausnahmslos heute Nacht in unserem Schlafsaal. Gut, bei 46 belegten Betten kommt es schon einmal vor, dass ein paar Schnarcher dabei sind, aber so viele auf einmal, grenzt schon fast an Bestrafung. Und zur Krönung des Ganzen lag der Chef der bösen Geister auch noch unmittelbar hinter uns. Mir hat dieses Sägewerk im Dauerbetrieb eine schlaflose Nacht bereitet. Hin und wieder bin ich mal eingenickt, um jedoch schon bald festzustellen, dass es heute keinen großen Sinn macht, den benötigten und wohlverdienten Schlaf zu bekommen. Ab 5.00 Uhr beginnen die ersten nervösen Pilger mit ihren Vorbereitungen für den Aufbruch - und das erneut sehr rücksichtslos. Da ich nicht mehr zur Ruhe komme, stehe ich halt um 5.30 Uhr auf, ziehe mich an und entschließe mich zur Wallfahrt zum Santiagiño do Monte - dem „Jaköbchen am Berge“. An einer Stelle oberhalb des Karmeliterinnen-Konvents soll Jakobus seine erste Predigt auf spanischem Boden gehalten haben. Dazu wende ich mich noch bei Dunkelheit am Brunnen Fuente del Carmen nach links bis zum Beginn einer flachen, mit quaderförmigen Steinen belegten Treppe. Zwei Säulen auf beiden Seiten, verziert mit Jakobsmuschel und -kreuz, weisen den Weg. Der untere Teil der Treppe ist noch beleuchtet, etwa in der Mitte bin ich auf das spärliche Licht eines kaum sichtbaren Mondes und meiner Taschenlampe angewiesen. Die Treppe führt 114 Stufen überwiegend an der Mauer des Konvents entlang und endet an einer Straße, die sich weiter aufwärts bis zu einem Friedhof schlängelt. Hier bin ich definitiv falsch und kehr um. Kurz vor der Treppe entdecke ich rechts von mir schemenhaft ein Gebäude. Es handelt sich um eine kleine Kirche, die um diese Uhrzeit natürlich verschlossen ist. Nur wenige Schritte dahinter stoße ich auf das Objekt der frühmorgendlichen Begierde. Es handelt sich bei dem Denkmal um einen Felsbrocken, versehen mit einem Steinkreuz und einer Jakobus-Statue. Ich verweile hier ein wenig und sammele mich für das letzte Teilstück nach Santiago. Nach einem Gebet und einem Blick auf die Uhr mache ich mich auf den Rückweg zur Herberge. Dort angekommen sind die meisten Betten bereits verlassen, nur der Superschnarcher dreht sich gerade noch einmal um, verbunden mit einem besonders lauten Geräusch. Ich wecke Jörg und bringe meinen Rucksack nach unten in die Küche, um ihn fertig zu packen. Dort sind andere Pilger gerade dabei, eine Kleinigkeit zu essen oder ebenfalls letzte Handgriffe vor dem Abmarsch zu tätigen. Heute werde ich in Sandalen pilgern, da ich mir gestern wahrscheinlich in der letzten halben Stunde ein wenig die Hacken aufgescheuert habe. Ich hätte die Socken zwischendurch einmal ausziehen sollen und trocknen lassen, so wie wir es die Tage zuvor auch gemacht hatten. Man sollte halt nie von seinen Gewohnheiten abweichen. Kurz darauf kommt auch Jörg in die Küche und packt sein Bündel fertig. Wir unterhalten uns ein wenig mit Carolina aus Virginia sowie unseren italienisch-spanischen Pilgerfreunden, die wir heute unterwegs noch öfters sehen sollten. Von der Herberge laufen wir zur Brücke über das Flüsschen Sar, wo am Ufer der Legende nach das Boot mit dem Leichnam von Jakobus gelandet sein soll. Hinter der Jakobus-Kirche kehren wir in der Cafetería Don Pepe II, um wenigstens eine Kleinigkeit zu uns zu nehmen. Es wird dann ein Café con leche und ein Stück Tarta de Santiago. Das Café ist zugepflastert mit tausenden Erinnerungen und Artefakten vom Camino von eingekehrten Gästen aus aller Welt. Meine Visitenkarte hängt nun auch an einer Wand. Zum Abschied gibt es noch eine herzliche Umarmung. Dann geht es richtig los, zunächst an der Landstraße, dann kreuz und quer durch schmale Gassen kleiner Dörfer. Einmal endet der Weg vor uns, sodass wir einfach die zwischen der offensichtlichen Fortführung des Weges und uns liegende Bahnlinie überqueren. Wir müssen wohl eben irgendwo einen Abzweig verpasst haben. Momentan ist es frisch und der Nebel hängt tief, kleine Tröpfchen setzen sich auf meiner Brille fest. Nach rund 10 Kilometern würden wir gerne noch etwas Richtiges frühstücken, doch im Restaurant A Milagrosa in Picaraña sind die Eier ausgegangen, sodass die Zubereitung eines Omelettes nicht möglich ist. Wir begnügen uns mit einem Cafe con leche und gehen einfach weiter. Irgendwo werden wir sicherlich feste Nahrung bekommen. Nur 200 Meter weiter bekommen wir in der Bar Dominga Rodríguez Priegue ein Bocadillo mit Seranoschinken. Auch unser internationales Pärchen lässt sich hier ein Bocadillo schmecken. Nach der zusätzlichen Pause wird es nun aber Zeit, dass wir weiter kommen. Der schmale Rand einer stark befahrenen Landstraße ist für ein paar hundert Meter unser Begleiter, dann geht es links ab nach Teo. Noch knapp 13 Kilometer sind wir auf Pilgerschaft. Innerlich stimmt mich das ein wenig traurig, dass die Zeit bald unserer Reise herum zu sein scheint. Wir laufen jetzt abwechselnd durch naturbelassene Abschnitte und urbane Gebiete, treffen noch einmal Carolina, die es sich am Wegrand bequem gemacht hat. Am Ende eines ansteigenden Waldweges erwartet uns hinter einem Sägewerk die "mobile" Bar Descanso do Peregrino. Hier gibt es Getränke, kleine Snacks und frisches Obst, wovon wir gerne zugreifen. Obwohl wir nicht mehr allzu weit von Santiago entfernt sind, ist die Anzahl der Pilger auf dem Caminho Português immer noch recht überschaubar. Der Weg ist hier nicht überlaufen. Die innere Unruhe in mir nimmt immer mehr zu. Ich kann es kaum noch erwarten, endlich anzukommen. Wir werden von einer älteren Läuferin überholt, die auf Höhe eines Umspannwerkes umdreht und uns wieder entgegen kommt. Hinter dem Umspannwerk genießen wir erstmals einen direkten Blick auf Santiago, auch die Türme der Kathedrale scheinen durch den immer höher steigenden und schließlich sich auflösenden Nebel hindurch sichtbar zu sein. Ich könnte jetzt auch loslaufen, Santiago scheint zum Greifen nahe. Der Himmel klart weiter auf und die Sonne wird unseren Einmarsch in die Jakobusstadt hoffentlich in einem guten Licht erstrahlen lassen. Es geht nun über einen holprigen Weg abwärts. Nach ein paar Biegungen sitzt am Rande eine mittelalte Frau zusammengekauert und sieht sehr enttäuscht aus. Ihr laufen Tränen aus den Augen, während sie sich an eine Begleiterin anlehnt. Sie hat sich bei einem Sturz den linken Arm gebrochen und ist nicht mehr in der Lage, eigenständig die verbleibenden vier Kilometer zu laufen. Wir fragen, ob wir etwas tun können, doch ihre Begleiterin versichert uns, dass Hilfe bereits unterwegs sei und wir doch unseren Weg fortsetzen sollen. Unten angekommen überqueren wir eine Bahnlinie. Dabei kommen mir Bilder von dem schrecklichen Eisenbahnunglück am Jakobustag 2013 in Erinnerung, bei dem über 70 Menschen, darunter viele Pilger, ums Leben gekommen sind. Ein letzter Anstieg zu einem Krankenhaus fordert uns noch einmal. Ich versinke immer tiefer in meine Gedankenwelt und erste Tränen kullern aus den Augen. Der folgende Wegabschnitt enttäuscht mich völlig, er ist ganz und gar nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Wir gehen durch die laute, stinkende und sich langsam fortbewegende Avenida de Xoán Carlos I. in Richtung Zentrum. Auf den Fußwegen schieben sich Menschenmassen in beide Richtungen, sodass es uns zum Teil schwer fällt, vorwärts zu kommen. Ich hatte mir eigentlich einen total romantischen Einmarsch in die Stadt gewünscht. Nun erlebe ich hier das pulsierende Leben einer Großstadt, wie ich es die vergangenen zwei Wochen nicht hatte. Es ist ein totaler Kontrast zu der stimmungsvollen Natur, dem Meer, den kleinen Dörfern. Erst als wir an den Rand der Altstadt gelangen, brodelt es wieder in mir. Auch hier pulsiert das Leben, aber es ist anders als eben. Hier begegnen dir Pilger mit fröhlichen Gesichtern, die sich freuen, Santiago de Compostela erreicht zu haben. Jörg und ich ziehen durch die belebte Straße, die rechts und links mit Andenkenläden und Restaurants bestückt ist. Unser gemeinsamer Weg in diesem Jahr endet schließlich nach 254 Kilometern auf der Praza do Obradoiro vor der Kathedrale. In diesem Moment fällt so ziemlich alles von mir ab und ich fühle mich leicht wie eine Feder. Ein unglaubliches Glücksgefühl durchflutet mich und ich erlebe einen Adrenalinstoß nach dem anderen. Ich muss mich auf den Boden setzen, mit Blickrichtung zur Kathedrale, die leider hälftig mit Gerüsten versehen ist. Ich lasse mich einfach fallen und schaue nach oben, wo Jakobus auf mich herabschaut. Ich bin in diesem Augenblick nur dankbar. Meiner Familie, die mich ziehen gelassen hat, meinem Pilgerfreund Jörg, dass er wieder einmal mit mir losgezogen ist und mich ein Stück Weges begleitet und behütet hat. Ich bin all denen dankbar allen, die mich bei allen Camino-Aktivitäten unterstützt haben. Wir liegen uns in den Armen und sind beide dankbar dafür, dass wir gesund und ohne Blessuren in Santiago angekommen sind, dass wir wunder-schöne Tage miteinander verbracht haben. Während ich noch nicht so richtig meine Gedanken sammeln kann, zieht mich Jörg von der Kathedrale weg. Wir benötigen noch eine Unterkunft für die beiden nächsten Nächte. Jörg hat sich in den Kopf gesetzt, genau dort nachzufragen, wo er bereits vor drei Jahren ein Zimmer bekommen hatte. Er kann sich jedoch nur noch vage an die Gegend und das Haus erinnern und lässt seinem Gespür freien Lauf. In der Rúa de Entremuros klingelt er an dem vermeintlichen Haus und fragt über die Sprechanlage nach einem Zimmer, erntet allerdings nur ein schroffes „no“. Das war dann wohl die falsche Türe! Wir gehen ein paar Schritte weiter und treffen eine Frau, die Jörg anspricht. Und das ist ein Volltreffer. Sie spricht ein wenig Englisch und ist tatsächlich die Tochter der alten Dame, die Jörg vor drei Jahren auf der Praza do Obradoiro ein Zimmer angeboten hatte. Wir bekommen ein mittelgroßes Doppelzimmer und treffen nur wenig später die alte Dame, die einen sehr herzlichen Eindruck macht. Wir werden sie in der Stadt noch öfter wiedersehen, wenn sie ankommenden Pilgern ihre Zimmer anbietet. Nachdem wir unsere Unterkunft bezogen und uns frisch gemacht haben, steht noch einiges an Administration auf unserem Tagesplan. Zunächst machen wir uns auf die Suche nach dem Busbahnhof, den wir unter anderem auch mit Hilfe eines sehr gut deutsch sprechenden Touristenführers gut finden. Dort will sich Jörg sein Busticket für die Rückfahrt nach Porto kaufen. Er fliegt übermorgen von Porto wieder zurück nach Frankfurt. Der entsprechende Schalter öffnet aber erst in einer guten halben Stunde. Auf dem Rückweg in die Stadt begleiten wir eine ältere Pilgerin aus Schweden, die uns von ihren Erlebnissen berichtet. Dann wollen wir im Pilgerbüro unsere Compostela abholen. Die Wartezeit von einer guten Stunde überbrücken wir mit Gesprächen. So lernen wir Ulrike aus der Nähe von Heidelberg kennen, die wie wir in Porto gestartet ist. Schließlich sind auch wir an der Reihe und legen unsere Credenciales vor. Der letzte Stempel unserer Reise findet seinen Weg durch die Hand der freundlichen Mitarbeiterin des Pilgerbüros. Ich beantworte bereitwillig ihre Fragen und trage mich in eine Liste ein. Jörg steht am Schalter direkt neben mir und erfährt die gleiche respektvolle Behandlung. Prompt bekommen wir die Pilgerurkunde ausgestellt, dazu kaufen wir zur Verhinderung von Transportschäden die obligatorische Papprolle. Nach wenigen Minuten machen wir Platz für die nächsten Pilger. Die Schlange ist nicht deutlich kleiner geworden, im Gegenteil, eher länger. Während sich Jörg danach in unserem Zimmer etwas ausruht, schreibe ich meinen Tagesbericht. Da die Bar, in der ich sitze, gleich schließt, beende ich die Schreiberei. Da es bis zur vereinbarten Treffzeit mit Jörg noch dauert, schon einmal voller Erwartung in die Kathedrale und habe das Glück, schon einmal die traditionelle Umarmung des Jakobus am Hochaltar zu vollziehen und in der Krypta am Sarkophag ein Dankgebet zu sprechen. Ich bin begeistert von der Kathedrale, die so mächtig aussieht, jedoch voller Prunk etwas überladen wirkt. Wenn man sich aber in die Gedanken der Erbauer versetzt, ist das wohl doch eher ein Ausdruck der Ehrerbietung an Gottes und Jakobus „Adresse“. Da die Zeit nun doch fortgeschritten ist, mach ich mich zu unserem Treffpunkt. Wir werden heute in „dem“ Pilgerrestaurant überhaupt speisen, der Casa Manolo. Das Pilgermenü ist schmackhaft, das Restaurant macht auf mich jedoch den Eindruck einer Massenabfertigung, obwohl die meisten Tische noch unbesetzt sind. Jörg bestätigt mir diesen Eindruck. Es muss wohl vor drei Jahren noch etwas persönlicher gewesen sein. Zum Abschluss des emotionalen Tages bestellen wir in unserer Bar an der Ecke noch ein Bier und wollen dann zu Bett gehen. Doch daraus wird so schnell nichts. Ganz in der Nähe scheint ein Konzert stattzufinden. Wir machen uns auf die Suche und finden unmittelbar an der Praza Porta Camiño eine Bühne, auf der gerade die galizische Formation Leña Verde mit traditionellen aber auch modernen Weisen das versammelte Volk mit ihrer Darbietung fasziniert. Auch Jörg und ich sind begeistert und bleiben bis zum Ende des Auftrittes. Zwischendurch gönnen wir uns noch eine Chorizo vom Grill, ganz lecker. Gegen Mitternacht liegen wir dann endlich im Bett.
Wiedersehen bring Freu(n)de Freitag, 26. Juni 2015: Santiago de Compostela In unserer schmalen Gasse muss in der Nacht die Hölle gebrannt haben. Es hörte sich an, als würde eine Party direkt unter unsere Fenster stattfinden. Dem war wohl doch nicht so - aber circa 50 Meter unterhalb sind zwei Bars, und so schallte es anscheinend bis zu uns hoch. Ergebnis: mitten in der Nacht aufgewacht, spät wieder eingeschlafen, erst um 8.30 Uhr die Augen wieder geöffnet. Die Folge daraus war, dass ich den deutschen Gottesdienst um 8.00 Uhr verpasst habe, an dem ich gerne teilgenommen hätte. Jörg und ich machen uns frisch und suchen uns eine Möglichkeit für ein Frühstück. Gleich um die Ecke, neben unserer „Stamm-Bar“, werden wir fündig. Allerdings haben wir dabei ein teures Haus ausfindig gemacht. Anschließend gehen wir zur Praza da Obradoiro, wo inzwischen wieder einige Pilger ihr Ankommen fröhlich feiern. Es ist noch etwas bedeckt, nur vereinzelt sind blaue Flecken am Himmel erkennbar. Auf der Praza hoffen wir, das ein oder andere bekannt Gesicht zu sehen, aber wir müssen enttäuscht von dannen ziehen. Als wir den Platz wieder verlassen wollen, höre ich meinen Namen und schaue mich um. Da kommt auch schon Jürgen, ein Kamerad von mir, auf mich zu und wir begrüßen uns mit einer herzlichen Umarmung. Er ist den Camino del Norte gelaufen, war schon in Fisterra und Muxia und erwartet morgen seine Frau, mit der er noch einmal gemeinsam dorthin pilgern wird. Anschließend flanieren wir durch die Rúa do Franco, nehmen an deren Ende an einem Tisch Platz und bestellen uns etwas zu trinken. Von hier aus können wir die einziehenden Pilger vom Caminho Português gut beobachten. Es wäre uns eine Freude noch einmal Jan oder Alex zu sehen. Leider haben wir in der guten Stunde, die wir hier verbringen, auch kein Glück. Dann wird es Zeit, in Richtung Kathedrale aufzubrechen, denn um 12.00 Uhr möchten wir gerne der Pilgermesse beiwohnen. Bevor der Gottesdienst beginnt, studiert eine Nonne mit den Pilgern ein paar Lieder ein, und das in einer sehr charmanten Art und Weise. Sie spricht zwar nur spanisch, aber ich glaube, jeder versteht, was sie von uns will. Jörg ist dieses Mal ein wenig enttäuscht. Er meint, die Messe würde nur so dahinplätschern. Vor drei Jahren sei sie deutlich schöner gewesen. Ich bin jedoch mit ganzem Herzen dabei und genieße jede Minute. Ich bin völlig ergriffen und allmählich komme ich so richtig in Santiago de Compostela an. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass es für mich das erste Mal ist und Jörg durch seine erste Pilgertour eine gewisse Erwartungshaltung hatte. Leider wurde der Botafumeiro heute nicht geschwenkt. Beim Verlassen der Kathedrale begegnet uns die von der Schwedin geführte Gruppe aus Kanada und den USA, und auch wir liegen uns direkt in den Armen. Draußen treffen wir uns unter strahlend blauem Himmel noch einmal und berichten kurz und knapp, was uns in den letzten Tagen bewegt hat. Unmittelbar danach erlebe ich die nächste dicke Überraschung: ein Pilger kommt mit einem fröhlichen Grinsen langsam auf mich zu und irgendwie kommt mir sein Gesicht bekannt vor. Es ist Klaus aus unserem Koblenzer Pilgerforum, welch eine Freude. Auch wir umarmen uns intensiv. Er war drei Monate von Koblenz aus über Le Puy unterwegs. Schnell werden die Kameras gezückt und der Moment für die Ewigkeit festgehalten. Nebenan bemerke ich noch einmal unsere Freunde aus Übersee, auch mit ihnen müssen wir noch ein Erinnerungsphoto schießen, bevor wir uns ebenso herzlich verabschieden. Was ist denn hier nur los? So in etwas habe ich mir das erträumt. Man trifft liebgewonnene Mitpilger von unterwegs, man vermisst aber auch diejenigen, die man sehr gerne hier vor der Kathedrale noch einmal gedrückt hätte. Es ist ein überwältigendes Gefühl, das man nicht beschreiben kann. Man muss es erlebt haben. Ist es dieses Gefühl, für das man die ganzen Strapazen mit unzähligen Kilometern auf staubigen Straßen oder aufgeweichte Wegen durch Natur und Städte auf sich nimmt? Jürgen hatte uns heute Morgen den Tipp gegeben, im Franziskanerkloster die dortige Cotolaya abzuholen. Diese Pilgerurkunde gab es 2014 anlässlich 800-Jahrfeier der Pilgerreise des Franz von Assisi nach Santiago. Wir machen uns daher auf den Weg dorthin, aber leider ist die Sakristei verschlossen. Auch zwei weitere Versuche sollen scheitern, schade. So trösten wir uns halt mit einer Portion Pulpo und einem Salat in einem nahe gelegenen Restaurant. Anschließend treffen wir vor der Kathedrale erneut Jürgen und gehen zusammen ein Bier trinken. Dabei erzählt er uns, dass er schon im Parador zum Frühstück und Mittagessen war. Das Parador war im Mittelalter eine vom spanischen Königspaar gestiftete Pilgerherberge und musste sich nach der Umwidmung in ein Luxushotel verpflichten, täglich eine gewisse Anzahl von Pilger zu verpflegen. Dieser Verpflichtung gilt noch heute. Kaum sitzen wir ein paar Minuten, zieht an unserem Tisch das österreichische Paar vorbei, mit denen ich noch ein paar Worte wechsele. Sie freuen sich sehr, dass ich noch einmal zu ihnen gekommen bin. Inzwischen habe ich in Erfahrung gebracht, dass an jedem Freitagabend während des Pilgergottesdienstes um 19.30 Uhr der Botafumeiro geschwenkt würde. Diese sonst nur über Spenden finanzierte Attraktion wird freitags von der Gemeinde bezahlt als Dank an die zahlreichen Jakobspilger. Das möchte ich gerne als Höhepunkt des Tages miterleben, ge-rade an diesem aufregenden Tag mit dem Wiedersehen von vielen Pilgerfreunden. Mit Jörg mache ich einen Treffpunkt aus, er möchte heute nicht noch eine Messe besuchen. Ich freue mich aber, als ich ihn später gar nicht so weit weg von mir im Querschiff stehend erblicke. Es ist ein sehr emotionales Spektakel, wenn der riesige Weihrauchtopf über unseren Köpfen schwingt. Der engelsgleiche Gesang der Nonne als Untermalung des Schauspiels trägt sein Übriges bei, damit es einem eiskalt den Rücken herunter läuft. Nach einem kurzen Intermezzo auf unserem Zimmer spazieren wir Bevor wir den Abend ausklingen lassen, gehen wir noch einmal in Richtung Praza da Obradoiro. Es kommen immer noch unzählige Pilger in der Stadt an. Am Tunnel zur Praza, wo sich galizische Straßenmusiker die Klinke in die Hand geben, treffen wir Señor Cerveza, wenig später auch noch Monica, die Italienerin, allerdings ohne ihren Freund. Zum Abschluss des freudvollen Tages zieht es uns noch einmal auf das Konzertgelände von gestern. Dort gibt es heute Abend etwas rockigere Klänge zu hören.
Der Tag des Abschieds...Rückkehr nicht ausgeschlossen Samstag, 27. Juni 2015: Santiago de Compostela Der heutige Tag ist recht kurz beschrieben. Nach einer weiteren unruhigen Nacht machen wir uns ab 8.00 Uhr abreisefertig. Eine gute Stunde später trennen sich die Wege von Jörg und mir. Er geht in Richtung Busbahnhof, von wo er mit dem Bus nach Porto fährt und von dort nach Frankfurt fliegt. Auch ich werde später vom Busbahnhof zum Flughafen Santiago fahren und zum Hahn zurückkehren, wo ich von meiner Familie erwartet werde. Wir hatten wieder einmal eine harmonische Zeit und es wird nicht unser letzter gemeinsamer Camino sein. Im kommenden Jahr planen wir, unseren bereits begonnenen Weg durch Frankreich in Vezélay fortzusetzen. Meinen Rucksack durfte ich in unserer Unterkunft belassen, den Schlüssel solle ich bei meiner endgültigen Abreise einfach in den Briefkasten werfen. Ich begebe mich wieder ins Zentrum von Santiago, das noch wie leergefegt wirkt. Es sind noch sehr wenige Menschen auf der Straße. In den kleinen Gassen mit ihren stimmungsvollen Arkadengängen herrscht eine Stille, die man sich in der pulsierenden Stadt eigentliche gar nicht vorstellen kann. Erste Händler bauen ihre Verkaufsstände auf, die Straßencafés werden für die Gäste vorbereitet und die ersten Andenkenläden öffnen ihre Pforten. Ja, der Kommerz hat auch vor Santiago nicht Halt gemacht. Aber wir machen da ja schließlich alle mit, oder? Zuerst besorge ich mir ein paar Patches für meinen Rucksack und einige Pins. Etwas schwieriger gestaltet sich die Suche nach einer Jakobs-muschel als Zeichen der Pilgerschaft. Bisher habe ich mich stets geweigert, eine solche an meinem Rucksack anzubringen. Ich bin der Auffassung, dass erst das Erreichen von Santiago de Compostela dazu berechtigt. In einem kleinen Laden werde ich schließlich fündig. Hier finde ich eine individuell gestaltete Muschel, die von Hand in den Farben rot und schwarz koloriert und mit dem Jakobuskreuz versehen wurde. Genau so etwas habe ich gesucht, ein Uni-kat, das nicht jeder sein eigen nennen kann. Nach einem weiteren gescheiterten Versuch im Franziskanerkloster gehe ich zu den Markthallen, wo ich mir noch einmal eine große Portion Pulpo, frisch aus dem Sud, gönne. Zurück auf der Praza treffe ich noch einmal Jürgen und Klaus, die sich inzwischen auch kennen gelernt haben. Danach schaue ich mir das sehenswerte Museum der Kathedrale, in dem man auch in sonst nicht zugängliche Bereiche in den oberen Stockwerken, unter anderem mit dem Kreuzgang, gelangt. Nach der Besichtigung gehe vor der Abreise noch einmal in die Kathedrale und habe Riesenglück. Ich erlebe noch große Teile eines Gottesdienstes mit dem Erzbischof von Santiago mit, bei dem auch der Botafumeiro geschwenkt wird. Welch schöneren Abschluss der Pilgerreise kann man sich denn nur wünschen. Inzwischen kommt bei mir Wehmut auf. Wenn man durch die Straßen schlendert und sieht die Scharen von fröhlichen Pilgern, die gerade erst ihr Ziel erreichen, wirst du auf einmal ganz klein und unbedeutend. Du weißt, es ist vorbei, du bist am Ziel. Doch wie sagte Jürgen eben zum Abschied: "Du wirst sehen, es ist nicht das letzte Mal. Du kommst wieder." Ich bin überzeugt, dass er richtig liegt. Irgendetwas von dir bleibt auf der Praza da Obradoiro zurück. Und irgendwann musst du wieder nach Santiago, es zu suchen und wieder mitzunehmen.
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